Frankreichs Wählerinnen und Wähler haben bei der gestrigen Stichwahl das rechtsextreme «Rassemblement National» von der Macht ferngehalten und die Partei von Marine Le Pen sogar auf den dritten Platz verwiesen. Vorne liegt das Linksbündnis « Front Populaire», gefolgt von «Ensemble», der Partei von Präsident Macron. Doch keiner dieser drei Blöcke hat von heute an eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung.
Ein Seufzer der Erleichterung ging gestern Abend durch weite Teile Frankreichs. Die schon totgesagte, so genannte «Republikanische Front» hat noch einmal funktioniert und dafür gesorgt, dass sich Frankreich eben nicht auf den Weg macht, eine illiberale Demokratie zu werden. Der extremen Rechten wurde eindeutiger als erwartet der Weg an die Macht verstellt, ja sie wurde – entgegen aller Vorhersagen – nicht einmal die stärkste Kraft im künftigen Parlament. Bei aller Erleichterung über dieses Ergebnis sollte in Frankreich aber niemand vergessen, dass das «Rassemblement National» die Zahl seiner Sitze gegenüber den Parlamentswahlen 2022 gestern so gut wie verdoppelt hat.
Jordan Bardella, der Parteichef, der in den letzten Wochen – als niemand eine absolute Mehrheit für die extreme Rechte ausschliessen wollte – schon als möglicher Premierminister gehandelt worden war, bezeichnete das gestrige Ergebnis seiner Partei als einen gewaltigen Durchbruch. Währenddessen hielt sich die Ikone des «Rassemblement National», Marine Le Pen, nicht lange bei dem für sie letztlich enttäuschenden Ergebnis auf und erklärte, den Blick in die Zukunft und auf die Präsidentschaftswahlen 2027 gerichtet, aufgeschoben sei nicht aufgehoben, der grosse Sieg sei nur verschoben.
Die Linke
Das Linksbündnis aus vier Parteien wird, zur allgemeinen Überraschung, in Zukunft die stärkste Kraft in der Nationalversammlung sein, allerdings nur, wenn es Bestand hat. Und dies schien gleich am Abend des Wahlsieges alles andere als sicher zu sein.
Die Gallionsfigur der Linkspartei LFI, ihr ehemaliger Vorsitzender, Jean-Luc Mélenchon, tönte bereits 15 Minuten nach Bekanntwerden der Ergebnisse gewohnt vollmundig, Präsident Macron habe nun ausgespielt und sei verpflichtet, die Linke regieren zu lassen, schliesslich habe man gewonnen. Ganz so, als habe das Linksbündnis nicht knapp 190 Sitze, sondern die absolute Mehrheit von mehr als 289 erreicht …
Seitens seiner linken Partner waren da jedoch sofort ganz andere Töne zu hören, allen voran von Raphaël Glucksmann, der für die Sozialisten bei den EU-Wahlen ein achtbares Ergebnis erzielt hatte und seitdem zu einer der meist beachteten politischen Persönlichkeiten des Landes geworden ist. Man möge, so schrieb er seinen Partnern, aber auch seinen Gegnern ins Notizbuch, doch bitte endlich erwachsen werden und in einen vernünftigen Dialog treten.
Ein solcher Dialog wird allerdings mehr als schwierig, ja scheint geradezu unmöglich. Nicht nur wegen der anmassenden Haltung eines Teils der Linkspartei «La France Insoumise» und der Brüchigkeit des Linksbündnisses überhaupt, sondern auch weil auf der anderen Seite eminente Vertreter des Macron-Lagers, wie der ehemalige Premierminister Philippe oder der Zentrumschef Bayrou, noch am Wahlabend sofort Bedingungen stellten, so als wären sie der grosse Sieger und lägen nicht nur an zweiter Stelle.
Ihnen scheint tatsächlich entgangen zu sein, dass ihr Lager – auch wenn es weniger schlimm kam, als angekündigt – diese Wahl klar verloren hat und künftig eine Fraktion stellen dürfte, die mit rund 170 Sitzen 80 weniger aufzuweisen hat als vor dieser Wahl.
Koalition
Angesichts der drohenden Unregierbarkeit des Landes nach diesem Wahlergebnis, hat man in Frankreich gestern Abend und schon in den Tagen davor plötzlich das Wort Koalition entdeckt, welches in dem Land aber seit acht Jahrzehnten fast ein Fremdwort ist.
Wie soll jetzt, quasi über Nacht, eine Koalition zustande kommen, in einer politischen Landschaft, die nicht die Spur einer Kompromisskultur entwickelt hat? Ja, wo das Wort Koalition – und man konnte es gestern Abend live erleben – gleichgesetzt wird mit einem «Sich-Kompromittieren» oder «Sich-Arrangieren», auf jeden Fall ein durchweg negativ besetztes Wort ist.
Noch-Premierminister Attal – er ist nach seinem formalen und traditionellen Rücktrittsangebot, dem nicht stattgegeben wurde – gehalten, die Alltagsgeschäfte weiterzuführen. Immerhin stehen in Frankreich Olympische Spiele an, und ein Ausrichterland ohne Regierung ist nun einmal schwer vorstellbar, würde dem ohnehin schon befürchteten Chaos ein zusätzliches Chaos bescheren. An der Spitze einer neuen Regierung, wann immer sie auch zustande kommt, wird der 34-jährige Attal allerdings nicht mehr stehen. Am Wahlabend vollzog er in einer kurzen Ansprache einen klaren Bruch mit Präsident Macron, dem er die überstürzte und unverständliche Auflösung der Nationalversammlung bis heute nicht verziehen hat, und klang, was eine künftige französische Regierung angeht, reichlich hilflos. Man müsse etwas völlig Neues erfinden, so die Formel des Noch-Premierministers. Bleibt die Frage: Was?
Parlament gestärkt – Macron geschwächt
Eines steht allerdings ausser Frage: Diese Parlamentswahl – erstmals seit 20 Jahren nicht in unmittelbarer Folge der Präsidentschaftswahlen – und ihr Ergebnis haben die politische Macht recht eindeutig aus dem Élyséepalast abgezogen und in die Nationalversammlung verlegt. Das Jupiter-Gehabe des Emmanuel Macron dürfte damit ein vorläufiges, vielleicht sogar ein endgültiges Ende haben.
Bislang hat sich der Hausherr im Élyséepalast doch tatsächlich nicht zum Wahlergebnis geäussert, nur verlauten lassen, er warte, dass sich das neue Parlament strukturiert, um die notwenigen Entscheidungen zu treffen. Immerhin wird er im Lauf der nächsten Wochen oder Monate einen neuen Premierminister ernennen müssen, welcher in der neu gewählten Nationalversammlung über eine Mehrheit verfügen könnte. Wie das bei den drei verfestigten und festgefahrenen Blöcken – die Linke, die Macron-Partei und Partner, sowie die extreme Rechte – möglich sein soll, steht in den Sternen.
Emmanuel Macron, der Brandstifter, hatte die Auflösung der Nationalversammlung damit begründet, dass das Land eine «clarification» nötig habe. Geklärt und klarer ist nach dieser Wahl allerdings gar nichts, die Situation verfahrener als zuvor und das Land bis auf weiteres kaum regierbar.
Wenn nicht alles täuscht stehen Frankreich – nach dem Olympischen (Un)Frieden und der anschliessenden Sommerpause – unruhige Zeiten bevor.