Gleich mit dem ersten Satz wird eine Erwartung erzeugt, die den Leser nicht mehr loslässt. „In diesem Buch“, schreibt Oswald Spengler, „wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen.“ Zum ersten Mal? Das ist freilich sehr anmassend und nicht zutreffend formuliert; denn lange vor Spengler hat man den Verlauf der Geschichte philosophisch zu deuten und vorauszusagen versucht.
Schon das Christentum kennt den Begriff der Heilsgeschichte, die mit Christi Geburt beginnt, mit der Auferstehung der Toten endet und in ihrem Verlauf durch göttliche Vorsehung bestimmt ist. Der Christ glaubt an einen sinnvollen Plan der Geschichte, auch wenn sich das historische Geschehen seinem rationalen Verständnis entzieht.
Eine Geschichtsphilosophie ganz anderer Art hat Karl Marx, von seinem Lehrer Hegel ausgehend, entworfen. Marx sieht in der Historie eine Geschichte der Klassenkämpfe, die sich solange fortsetzen wird, bis das Ziel der klassenlosen Gesellschaft erreicht ist. Auch der dialektische Materialismus der Marxisten ist ein Versuch, im Geschichtsverlauf eine Gesetzmässigkeit walten zu sehen und einen Plan zu erkennen, den der Mensch handelnd verwirklichen muss.
"Biologischer" Geschichtsverlauf
Oswald Spengler war weder Christ noch Marxist. Der christlichen und der kommunistischen Geschichtsphilosophie setzte er eine Theorie des Geschichtsverlaufs entgegen, die er als „biologisch“ bezeichnet hat. Er ging davon aus, dass die Weltgeschichte von acht Hochkulturen bestimmt wurde, der ägyptischen, babylonischen, indischen, chinesischen, antiken, arabischen, altmexikanischen und abendländischen.
In jeder dieser Kulturen sah er einen lebendigen Organismus, der wie die Erscheinungen der Natur als in sich geschlossenes, schicksalhaft gewachsenes Ganzes zu verstehen war. Spengler schwebte eine „Morphologie“ der Weltgeschichte vor. Die Geschichte sollte nicht rational auf ihren kausalen Zusammenhang reduziert werden, wie die Fachhistoriker es taten; sie konnte nur durch intuitive Anschauung wirklich verstanden werden. „Ich sehe in der Weltgeschichte“, schreibt Spengler, „das Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen ‚ansetzt‘.“
Sokrates und Voltaire repräsentieren das einsetzende Greisenalter
Nach Spengler sind diese kulturellen Organismen, so verschieden sie sein mögen, dem biologischen Wandel des Werdens und Vergehens gleichermassen ausgesetzt. „Jede Kultur“, schreibt er, „durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.“ Hin und wieder zieht Spengler ein anderes Bild bei und spricht vom Frühling, dem Sommer, dem Herbst und dem Winter der Kulturen. Da alle Kulturen demselben Entwicklungsmuster unterworfen sind, wird es möglich, sie zu vergleichen.
Es macht einen Teil der Faszination von Spenglers Werk aus, dass er das Feld der traditionellen Nationalgeschichte verlässt und in weltgeschichtliche Dimensionen vorstösst. Dabei setzt er den Analogieschluss als Erkenntnismittel ein. So stellt er etwa fest, dass der Frühling der indischen, der antiken, der arabischen und der abendländischen Kultur zwischen 1500 vor Christus und 1000 nach Christus unter vergleichbaren Entstehungsbedingungen einsetzte. Oder er sieht in Dionysios von Syrakus, Augustinus und Luther typische Vertreter des Sommers einer Kultur. Gestalten wie Buddha, Sokrates und die Aufklärungsphilosophen Voltaire und Rousseau repräsentieren dagegen den Herbst, das einsetzende Greisenalter.
Ein Bestseller
Spenglers Buch wurde, nachdem es 1922 im Münchner Beck-Verlag erschien, der das Werk noch heute verlegt, zum Bestseller. Man hat diesen Erfolg mit demjenigen von Goethes „Leiden des jungen Werther“ verglichen. Und in der Tat: Von beiden Werken liesse sich sagen, dass sie einem latenten Zeitgefühl zum Ausdruck verhelfen und es ins allgemeine Bewusstsein heben. Was die ersten Leser von Spengler fraglos am meisten interessierte, waren die Überlegungen des Autors zur abendländischen Kultur.
Spengler stellt fest, dass sich diese Kultur, die er die „faustische“ nennt, in einer Phase des Niedergangs befindet. In ihrer Blütezeit ist sie gekennzeichnet durch einen Entdeckungs- und Erkenntnisdrang, wie er andern Kulturen, etwa jener der Antike, fehlt. Während der antike Mensch sich in Übereinstimmung mit der Natur befindet und in sich selber in einer Art zeitloser Gelassenheit ruht, zieht der abendländische Mensch aus, um in die Natur einzudringen, sie zu beherrschen und nach seinem Willen zu gestalten. Bedeutende Vertreter der Blütezeit dieser faustischen Kultur sind für Spengler Leonardo da Vinci und Christoph Kolumbus. Leonardos visionäre Erfindungen weisen bereits auf die technischen Leistungen späterer Jahrhunderte voraus, und Kolumbus steht mit seinen Entdeckungsreisen am Anfang europäischer Weltbeherrschung. Als Symbol der faustischen Kultur bezeichnet Spengler die im 16. Jahrhundert entwickelte mechanische Uhr, welche die Zeit einteilt, dem Menschen unterwirft und dienstbar macht. „Der faustische Erfinder und Entdecker“, schreibt Spengler, „ist etwas Einziges. Die Urgewalt seines Wollens, die Leuchtkraft seiner Visionen, die stählerne Energie seines praktischen Nachdenkens müssen jedem, der aus fremden Kulturen herüberblickt, unheimlich und unverständlich sein, aber sie liegen uns allen im Blute.“
Diktatur der Technik
Gegen Ende des 18. und mit Beginn des 19. Jahrhunderts setzt der Niedergang der faustisch-abendländischen Kultur ein. Aus der Kultur wird das, was Spengler die „Zivilisation“ nennt. Die frühere Selbstverständlichkeit und Selbstgenügsamkeit des Daseins wird in Frage gestellt, und der althergebrachte Einklang des Menschen mit Religion und staatlicher Ordnung geht verloren. Das Volk, das sich mit seiner Heimat tief verwurzelt fühlte, wird durch den modernen Nomaden ersetzt, der in gesichtslosen Grossstädten haust und seinen Wohnsitz wechselt. Der Demokratisierungsprozess erzeugt keine freien Individuen, sondern eine Masse, die der Verführung durch Presse und Propaganda ausgesetzt ist.
Das Geld löst sich vom Güteraustausch, wird zum Wert an sich und zum wichtigsten Merkmal des Erfolgs. Der Diktatur des Geldes entspricht die Diktatur der Technik. Diese hört auf, Hilfsmittel des Menschen zu sein; sie unterwirft sich vielmehr den Menschen und macht ihn zu ihrem Sklaven. Die Maschine dominiert die Welt. „Der Bauer, der Handwerker, der Kaufmann“, schreibt Spengler, „erscheinen plötzlich unwesentlich gegenüber den drei Gestalten, welche sich die Maschine auf dem Weg ihrer Entwicklung herangezüchtet hat: dem Unternehmer, dem Ingenieur, dem Fabrikarbeiter.“
Nach oben gespülte skrupellose Gewaltmenschen
Im Imperialismus sieht Spengler den reinsten Ausdruck der Spätzeit. Die Gestalt von Cecil Rhodes, dem britischen Kolonisator Rhodesiens, erscheint ihm als die reinste Inkarnation der Zeitphase der Zivilisation. Durch die Industrialisierung wird der abendländische Mensch in die Lage versetzt, in die Weiten der vorindustriellen überseeischen Welt vorzudringen, um deren Reichtümer auszubeuten und eine politische Vormachtstellung zu gewinnen. „Die expansive Tendenz“, schreibt er, „ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen Dienst zwingt und verbraucht, ob er will oder nicht, ob er es weiss oder nicht.“
Cecil Rhodes steht am Ende einer Kulturentwicklung, die mit einer Figur wie Napoleon begann und die – so die Prophezeiung Spenglers – mit dem „Cäsarismus“ gewalttätiger Diktatoren abgeschlossen werden wird. Keine Kultur entgeht der Tragik dieser Endzeit, in der skrupellose Gewaltmenschen durch den Aufruhr entfesselter grossstädtischer Massen nach oben gespült werden und Furcht und Schrecken verbreiten.
Verbreiteter Geschichtspessimismus
Man kann sich leicht vorstellen, wie suggestiv Spenglers Visionen einer Endzeit auf die zeitgenössische deutsche Leserschaft gewirkt haben müssen. Man hatte die Niederlage des Ersten Weltkriegs und den Untergang der Monarchie noch nicht verarbeitet. Zur neuen Republik hatte man noch kein Vertrauen gefasst. Die Zukunft war ungewiss, und der Geschichtspessimismus war weit verbreitet. Zwar betonte Spengler sowohl in seinem Hauptwerk wie in späteren Schriften immer wieder, es gelte die Zivilisation zu akzeptieren, sie zu lieben; sie böte noch genug Möglichkeiten zur schöpferischen Gestaltung. Aber die Fatalität des Niedergangs blieb dennoch unbestritten.
Am Schluss des Buches stehen die folgenden Sätze: „Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist damit in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben, ohne das es sich nicht zu leben lohnt. Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn.“
Parlamentarismus, ein Phänomen der Endzeit
Man hat oft darüber diskutiert, ob Spenglers „Untergang des Abendlandes“ dem Nationalsozialismus und vergleichbaren Ideologien den Weg geebnet habe. Unzweifelhaft ist, dass Spengler die Demokratie und den westlichen Parlamentarismus als Phänomene der Endzeit betrachtet hat. Unzweifelhaft ist auch, dass er, ganz im Gegensatz zum Geistesverwandten Jacob Burckhardt, von „grossen Persönlichkeiten in der Geschichte“ fasziniert war und Deutschland eine weltgeschichtliche Führungsrolle zuwies.
Wenige Monate nach Hitlers Aufstieg zur Macht konnte er schreiben: „Der nationale Umsturz von 1933 war etwas Gewaltiges und wird es in den Augen der Zukunft bleiben durch die elementare überpersönliche Wucht, mit der er sich vollzog und durch die seelische Disziplin, mit der er vollzogen wurde.“ Aber er fügte sogleich hinzu: „Es ist keine Zeit und kein Anlass zu Rausch und Triumphgefühl. Wehe denen, welche die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln! Eine Bewegung hat eben erst begonnen, nicht etwa das Ziel erreicht, und die grossen Fragen der Zeit haben sich dadurch in nichts geändert.“
Ein Nationalsozialist war Spengler nicht, und die Nationalsozialisten, die an seinem Buch anfänglich Gefallen gefunden hatten, wandten sich bald anspruchsloserer Literatur zu. Einer der schärfsten Kritiker Spenglers, der ungarische Marxist und Literaturhistoriker Georg Lukàcs, hat den „Untergang des Abendlandes“ doch wohl zu Recht als „unmittelbares Vorspiel zur Philosophie des Faschismus“ bezeichnet. Als der Geschichtsphilosoph im Jahre 1936 starb, hatten Hitler und seine Gefolgsleute den Polizeistaat errichtet, die Gegner umbringen lassen und die antisemitischen „Nürnberger Gesetze“ erlassen. So hatte sich Oswald Spengler die „grossen Persönlichkeiten der Geschichte“ allerdings nicht vorgestellt.