Ambitionierte Umweltprogramme gehören mittlerweile zur Ankündigungsrhetorik führender Politiker nicht nur in Deutschland. Aber dort müssen marode Autobahnbrücken gerade notfallmässig gesperrt oder am besten gleich gesprengt werden. Politischer Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander.
Für Bundeskanzler Olaf Scholz kann der Ausbau der Windkraftanlagen nicht mehr schnell genug vorangehen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Nach einer Kabinettsklausur in Meseberg am vergangenen Wochenende kündigte er an, dass bis zum Jahr 2030 pro Jahr in Deutschland fünf neue Windräder errichtet werden sollen. Darin sieht er zugleich ein gewaltiges Beschäftigungsprogramm, so dass Deutschland «das Problem der Arbeitslosigkeit hinter sich lassen» werde. Und sein Wirtschaftsminister Robert Habeck sekundierte: «Es ist ein gigantisches Industrie- und Beschäftigungsprogramm, das wir hier anschieben.»
Marode Infrastruktur
Zur selben Zeit wurde bekannt gegeben, dass am 7. Mai die Rahmedetalbrücke bei Lüdenscheid gesprengt werden soll. Weil Ingenieure gravierende Schäden an diesem Bauwerk aus den Sechzigerjahren festgestellt hatten, musste diese Brücke im Dezember 2021 von heute auf morgen für den gesamten Verkehr gesperrt werden. Jetzt wird sie gesprengt, damit irgendwann an dieser Stelle eine Nachfolgerin errichtet werden kann. Das ist keine Kleinigkeit. Denn ohne diese Brücke funktioniert die A 45, die sogenannte Sauerlandlinie, nicht. Seit der Sperrung im Dezember 2021 quält der sich über Umleitungen, was die Anwohner belästigt und zudem Lieferketten bedroht.
Die Rahmedetalbrücke ist nicht das einzige Problem. Allein an der A 45 gibt es mehr als 60 Brücken, die einer dringenden Sanierung bedürfen. Dazu kommen weitere problematische Brücken anderer Autobahnen in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Allein in Nordrhein-Westfalen handelt es sich um mehrere Hundert. Bundesweit sind es mehrere Tausend. – Auch die Bahn leidet unter maroder Infrastruktur. Deutschland lahmt.
Ungetreue Geschäftsführung
Aber Deutschland blickt voller Mut, Zuversicht und Schaffenskraft nach vorn, jedenfalls, wenn man den den führenden Politiker der Ampel glaubt, die nicht müde werden zu versichern, wie sehr sie es «wummsen» lassen können – wenn einmal der Rekurs auf die Vorschulsprache des Kanzlers erlaubt ist. Warum aber sollte gerade diesen Politikern etwas gelingen, woran ihre Vorgänger bislang kläglich gescheitert sind? Diese Frage decken sie mit ihrer dröhnenden Begeisterung zu.
Wenn ungelöste Probleme auftreten oder es gar zu Unglücksfällen kommt, wird gern gesagt, dass diese «unvorhersehbar» gewesen seien. Das lässt sich aber bei den maroden Autobahnbrücken nicht behaupten. Denn viele davon wurden schon in den 1960er Jahren errichtet, wobei man die damals noch neue Technik des Spannbetons einsetzte. Jeder Ingenieur wusste, dass diese Brücken nicht für die Ewigkeit gebaut waren. Das sagten sie auch. Aber es geschah nichts.
Auch bei der Bahn musste klar sein, dass Schienen, Rollmaterial und Schaltanlagen über kurz oder lang erneuert werden müssen. Aber dafür wurden keine Mittel zurück gestellt, so dass die Bilanzen, speziell unter Hartmut Mehdorn mit seinen Börsenplänen, besser aussahen. In einem privaten Unternehmen, das so wirtschaftet, wären die Verantwortlichen möglicherweise wegen ungetreuer Geschäftsführung juristisch zur Rechenschaft gezogen worden.
Niemand!
Warum aber wurden offensichtliche Probleme nahezu flächendeckend ignoriert? Der Soziologe Ulrich Beck hat in den 1990er Jahren den Begriff der «organisierten Unverantwortlichkeit» geprägt. Diesen Begriff bezog er hauptsächlich auf die Verursacher von Umweltschäden. Wird ein Schaden gesetzt und danach in einem Unternehmen nach «den Verantwortlichen» gesucht, so stellt sich heraus, dass letztendlich niemand verantwortlich ist, weil sich seine Zuständigkeit jeweils nur auf Teilbereiche beschränkt: Der Wissenschaftler des Unternehmens forscht, aber setzt keine Schadstoffe frei, der Ingenieur baut Maschinen für ganz spezielle Aufgaben, der Jurist kümmert sich um Verträge und die Geschäftsführung um den wirtschaftlichen Erfolg. Dazu gibt es das komplexe System der Weisungen. Wer hat mit den Einleitungen von Schadstoffen zum Beispiel das Fischsterben im Rhein verursacht? Niemand!
Diese Analyse trifft auch das politische System: Die Parteien schauen auf ihre Wahlerfolge, die Politiker in den Parlamenten handeln Kompromisse aus, und die Verwaltungen haben ihre eigenen Prioritäten. Es gibt keinen Punkt, von dem aus das System zentral gesteuert werden könnte. Die einzige Ausnahme besteht in den Unterbrechungen, die dann verfügt werden, wenn die Aufsichtsbehörden Betriebsgenehmigungen entziehen wie im Falle der maroden Autobahnbrücken.
Hohle Ankündigungen
Vor Ulrich Beck hat sich der Soziologe Niklas Luhmann schon mit der Frage auseinandergesetzt, in wieweit die Gesellschaft sich auf ökologische Gefahren einstellen kann. Auch er kam zu dem Ergebnis, dass die Gesellschaft für die Bewältigung des Umweltthemas zu komplex organisiert ist. Es gibt keine zentrale Instanz, die wie früher ein Monarch zentrale Steuerbefehle geben könnte.
Politiker wären gut beraten, wenn sie bei ihren Ankündigungen das bisherige Systemversagen ebenso ins Auge fassten wie die Schwierigkeiten, die sich für die Gegenwart und Zukunft daraus ergeben. Es genügt nicht, alle Umsetzungsprobleme mit dem Schlagwort «Digitalisierung» lösen zu wollen. Blockaden des politischen Systems und der Verwaltung werden nicht dadurch aufgelöst, dass man noch mehr Daten in Echtzeit auf Displays abrufen und besichtigen kann. Die richtige Frage wäre: «Wie können wir etwas schaffen, was bislang nicht gelang? Wie können wir die Blickwinkel auf allen Ebenen erweitern?» Ambitionierte Ankündigungen allein klingen hohl. Politiker wirkten glaubwürdiger, wenn sie einmal erklären würden, mit welchen Mitteln sie der bisherigen Unwirksamkeit bester Absichten in der Politik illusionslos entgegen treten wollen.