Sie heisst Adua Marinari und ist 76 Jahre alt. Jeden Tag sitzt sie in einer Bretterbude vor der Villa San Martino. Dort verkauft sie ihr Buch, ein Kochbuch. Auch Mick Jagger hat eins gekauft, auch Naomi Campell, das Supermodel.
Hunderte Touristen ziehen täglich an der Bretterbude vorbei. Ab jetzt werden es Tausende sein. Sie alle besuchen das kleine Schloss auf dem Hügel. Hier, vor zweihundert Jahren, zog Napoleon ein.
Hier auch, in lieblicher Landschaft, wartet er auf seine Frau. Doch Marie-Louise, die Ex-Kaiserin, kommt nicht, sie hat schon einen andern.
Die Rezepte der Grossmutter
„Ohne Napoleon wäre ich verarmt und müsste wohl verhungern“, erzählt uns Adua. Sie weiss, was Hunger bedeutet. Sie war ein armes Bauernmädchen. Dann zog ihre Familie nach Rio Marina, ein Städtchen im Osten der Insel.
Mit ihrem Mann eröffnete sie ein Restaurant, doch das Lokal wurde weggeschwemmt, und die Ehe war nicht glücklich. So entschied sie sich, ein Buch zu schreiben: „Die Rezepte von Grossmutter Adua“. Kochen gelernt hat sie von ihrer Grossmutter und ihrer Mutter. Zehn Euro kostet ein Buch, auch auf Deutsch ist es erhältlich - ebenso auf Englisch und Französisch. Das Buch ist besser als viele der Hochglanz-Koch-Bibeln.
Jetzt hat Adua Hochkonjunktur. Am 4. Mai anno 1814, also vor genau 200 Jahren, ist Napoleon auf Elba gelandet. Die Insel feiert das Ereignis mit Pomp und hofft auf gute Geschäfte. Zehntausende zusätzlicher Touristen werden erwartet. Auch Adua ist gerüstet.
Misslungener Selbstmordversuch
Nach dem verlorenen Russland-Feldzug haben Russen, Österreicher und Preussen Napoleon aufgerieben. Seine engsten Vertrauten verlassen ihn, seine Freunde verraten ihn.
Im Vertrag von Fontainebleau wird am 11. April 1814 sein Schicksal besiegelt. Napoleon behält den Kaisertitel und wird Herrscher über die kleine Insel Elba. Eine Demütigung. Eine jährliche Apanage von zwei Millionen Francs wird ihm zugesprochen – einen Betrag, den er nie erhält. Marie-Louise, seine zweite Frau und ihr gemeinsamer Sohn, François-Joseph-Charles, erhalten die Herzogtümer Parma, Piacenza und Guastallo.
Der Kaiser ist am Ende. Er will sich umbringen, schluckt Opium, das nicht mehr wirkt. Dann rappelt er sich wieder auf. Unter Buh-Rufen fährt er an die Côte d’Azur. Am 28. April 1814 besteigt er in Saint-Raphaël die „Undaunted“. Am 3. Mai trifft er im Hafen von Portoferraio ein, dem Hauptort der Insel Elba. Er fürchtet sich, auszusteigen. Er weiss nicht, ob er willkommen ist. Am 4. Mai um 16.30 Uhr steigt er aus. Es regnet, er wird jubelnd empfangen.
Kanonenschüsse, Te Deum
Genau um diese Zeit, um 16.30 Uhr, wird jetzt am 4. Mai – 200 Jahre später – wieder ein Napoleon im Hafen von Portoferraio landen. In nachgestellten Szenen wird er von Hunderten kostümierten Elbanern empfangen. Wie Chiara Ferraro, eine Organisatorin der Festlichkeiten, uns prophezeit, werden Offiziere und Wachen mit alten Waffen bereitstehen. Männer in zweihundertjährigen Uniformen werden vor dem „Kaiser“ paradieren. Kanonenschüsse werden krachen.
Dem Geehrten werden symbolisch die Schlüssel der Stadt überreicht. In der Kathedrale erklingt das Te Deum. In einem Umzug ziehen die „Notablen“ zum Markt. Dort offerieren Marktfrauen, gekleidet wie 1814, Gerichte, die nach 200jährigen Rezepten zubereitet werden. Überall wird getanzt.
Napoleon – grösser als überliefert
1.68 Meter gross wird das Napoleon-Double sein, das jetzt auf Elba landet. Aber Napoleon war doch zehn Zentimeter kleiner. „Eben nicht“, heisst es im Organisationskomitee.
„Die Engländer, die ihn hassten, haben ihn bewusst verkürzt gezeigt“, heisst es. Doch vielleicht war alles nur ein Umrechnungsfehler. Laut seinem Kammerdiener war er „fünf Fuss, zwei Zoll und drei Linien“ gross. Ein englischer foot misst aber 30,48 Zentimeter. Das sind zwei Zentimeter weniger als der damalige französische pied (32,48 cm). Bei fünf Fuss macht dies zehn Zentimeter aus. Napoleon, „unser Kaiser“, war also ein stattlicher Mann, sagen die Elbaner, grösser als die meisten Männer von damals.
Napoleon, der richtige, liess sich zunächst in der Villa dei Mulini in Portoferraio nieder. Dann bezog er immer häufiger seine Sommerresidenz, fünf Kilometer vom Hauptort entfernt – dort, wo Adua ihre Rezepte verkauft.
In der Villa San Martino besichtigen die Besucher Napoleons Wohnzimmer, bestaunen sein Bett, seinen Arbeitstisch und vor allem seine doch kleine Badewanne. Vor dem Haus steht ein riesiger Steinadler – Symbol der napoleonischen Macht. Adua hat das Haus nur einmal besucht. Fasziniert ist sie nicht. „Diese kleinen Räume für unseren Kaiser“.
Napoleon wäre nicht Napoleon, wenn er nicht sogar in seinem Zwergstaat hyperaktiv gewesen wäre. Er lässt Strassen bauen, den Hafen vertiefen, Eisengruben werden ausgebeutet, Marmorbrüche werden wieder in Betrieb gesetzt. Er bildet eine kleine Flotte, Festungen werden gebaut, Sümpfe werden trocken gelegt, die Landwirtschaft wird gefördert, Paraden werden abgehalten.
Rauschende Feste
Und natürlich führt er seinen Code civil (Code Napoleon) ein, das Gesetzbuch für Zivilrecht, das noch heute in vielen Staaten in wichtigen Teilen gültig ist.
800 getreue Soldaten sind ihm auf die Insel gefolgt. Sie stiessen zu 300 weitern, die schon auf Elba stationiert waren. 13‘000 Einwohner hat Elba damals. Seit Napoleon hier ist, geht es ihnen besser.
Dabei sind auch seine Mutter und seine Schwester Poalina Borghese. Sie, eine lebenslustige, begehrte junge Frau, veranstaltet rauschende Feste und Konzerte. Selbst Dramen werden aufgeführt. Immer mehr strömen neugierige Touristen auf die Insel. Napoleon ist zur Attraktion geworden. Er plaudert mit vielen der Besucher. Manche lädt er gar ein. Eigentlich beginnt der Elba-Tourismus unter Napoleon.
Vor allem englische Touristen kommen. Sie wollen den gefallenen Mann sehen, ihren einstigen Todfeind. Englische Zeitungen berichten regelmässig über ihn.
Besuch der Geliebten
Immer wieder schreibt der 45-jährige Bonaparte seiner Frau Marie-Louise Liebesbriefe. Sie solle ihn endlich mit ihrem gemeinsamen Sohn besuchen. Doch ob er die eher unbedarfte Österreicherin wirklich liebt, ist zweifelhaft.
Marie-Louise kommt nicht, dafür kommt die polnische Gräfin Maria Walewska, mit der der Kaiser ein siebenjähriges Verhältnis und einen gemeinsamen Sohn hat. Der Besuch sei sehr leidenschaftlich gewesen, sagen die Elbaner. Gemeinsam pilgern die beiden zur Wallfahrtskirche Madonna del Monte. Eine halbe Stunde schliessen sie sich in der Kirche ein.
Hier oben meditiert Napoleon oft. Bei klarem Wetter erahnt er Korsika, dort, wo er geboren wurde. Jetzt, im Napoleon-Jahr, pilgern Hunderte Touristen von Marciano aus zur Kirche hinauf. Auf dem Weg wird ihnen die prächtige Flora der Insel vorgestellt.
Die Nächte verbringen Napoleon und seine Gräfin in der Sommerresidenz San Martino. Maria Walewska bleibt nur zwei Tage. Sie fürchtet die Ankunft von Marie-Louise, doch die vergnügte sich bereits mit einem andern: dem einäugigen Grafen Adam Albert von Neipperg, den man den "blinden Amor" nennt. Ihn wird sie später heiraten.
Der Adler bäumt sich auf
Napoleon ist genau informiert, was auf dem französischen Festland läuft. Die Royalisten, die ihn gestürzt haben, machen Fehler um Fehler. Sie protzen mit ihrem Reichtum, verschrecken die Liberalen, erhöhen die Steuern, verfügen Zollerleichterungen für englische Produkte und schaden so der französischen Wirtschaft.
Am 12. Februar 1815 erhält Napoleon Besuch von Fleury de Chaboulon. Er, der einstige Kabinettssekretär von Napoleon, informiert ihn über den Stimmungsumschwung in Frankreich.
Jetzt beschliesst der Adler, sich nochmals aufzuschwingen und nach Frankreich zurückzukehren. Er will nochmals Kaiser der Franzosen sein – und nicht nur Kaiser in Elba, einem 224 Quadratkilometer grossen Mini-Fleck. Er informiert seine Mutter. Sie sagt: „Reise mit Gott, mein Sohn, folge deinem Schicksal“.
Die Leute wollen ihn sehen, berühren, küssen, ihm danken
Napoleon wird in seinem Exil vom englischen Kommissar Sir Neil Campbell überwacht. Mit ihm pflegt er ein fast freundschaftliches Verhältnis. Mitte Februar vergnügt sich Campell in Livorno auf dem italienischen Festland. Napoleon ergreift die Gelegenheit. Er beschlagnahmt Schiffe, die im Hafen von Portoferraio liegen. Am 26. Februar 1815 werden auf sieben Schiffen elfhundert Mann und vier Kanonen verladen.
Am Abend vor seiner Abfahrt organisiert seine Schwester im Vigilanti-Theater ein Fest. Napoleon trägt weisse Hosen und eine schwarze Jacke. Paolina nennt ihn einen Pinguin. Napoleon küsst ihre Hand.
Beinahe lief alles schief
Auf der Überfahrt diktiert er eine Proklamation, die in ganz Frankreich verteilt werden soll: „Soldaten, wir sind nicht besiegt worden, in meiner Verbannung habe ich eure Stimme gehört. Euer General ist euch wiedergegeben, vereinigt euch mit ihm… die Siegesgöttin wird uns im Sturmschritt voraneilen, der Adler mit den nationalen Farben wird von Kirchturm zu Kirchturm fliegen, bis auf die Türme von Notre-Dame.“
Fast wäre alles schief gegangen. Auf der Überfahrt nach Frankreich begegnet sein Zweimaster, die „Inconstant“, einem französischen Kriegsschiff. Napoleon versteckt sich unter Deck. Der Kapitän des französischen Schiffs ahnt nichts.
„Sie liebte mich wirklich, nicht wahr?“
Am 28. Februar 2015 landet er im Golf von Juan-les-Pins. Mit seinen Anhängern zieht er über Cannes, Grasse und über die heutige Route Napoleon nach Digne und Grenoble. Das Volk jubelt ihm wieder zu. Zehn Tage später ist er in Paris, vier Monate später in Waterloo und am 17. Oktober auf Sankt Helena.
Doch bevor er endgültig verbannt wird, will er noch das Schloss Malmaison in Paris besuchen. Hier hatte Joséphine, seine erste Frau, die letzten Lebensjahre verbracht. Während seines Exils auf Elba ist sie gestorben. Napoleon hatte sich von ihr scheiden lassen, weil sie ihm keine Kinder gebar.
„Sie liebte mich wirklich, nicht wahr?“, sagte er vor der Abreise nach Sankt Helena. „Sie hatte ihre Schwächen, ohne Zweifel, aber wenigstens hätte sie mich nie verlassen.“ Verlassen jedoch hatte ihn Marie-Louise, auf sie hatte er auf Elba vergebens gewartet.
Genau sechs Jahre und einen Tag nach seiner Ankunft auf Elba stirbt Napoleon auf Sankt Helena. „Es regnete heute vor sechs Jahren“, sagte er am Tag vor seinem Tod. „Könnte ich diesen Regen wieder hören, würde ich gesund“.