Seit über sechs Monaten hält die Terror-Gruppe ISIS (Islamischer Staat in Syrien und im Irak) Stellungen in der irakischen Provinz Anbar. Vor dort aus sind die Kämpfer in den letzten Tagen in die Stadt Samarra in der Nachbarprovinz Salah ad-Din, sowie nach Mosul vorgedrungen. Auch den Campus der Universität von Abar, ausserhalb der Stadt Ramadi, griffen sie an.
Regieren – und sich nicht regieren lassen
Der Vorstoss nach Samarra war wohl der gefährlichste. Die Stadt ist mehrheitlich von Sunniten bewohnt, doch an ihrem Rande befindet sich ein Heiligtum der Schiiten, eine Moschee, die die Gräber des 10. und des 11. Imams birgt. Diese Moschee war 2006 von fanatischen Sunniten angegriffen und teilweise zerstört worden. Der Angriff hatte, entscheidender als alle vorausgegangenen Bluttaten, den mörderischen Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten ausgelöst, der in den beiden folgenden Jahren tobte - trotz der amerikanischen Besetzung. Tausende Menschen beider Konfessionen kamen ums Leben. Millionen wurden dazu gezwungen, ihre Wohnungen in den schiitisch-sunnitisch gemischten Gebieten unter Todesdrohung fluchtartig zu verlassen - und entweder im Ausland oder bei Angehörigen ihrer Konfession innerhalb des Landes Zuflucht zu suchen.
Die Narben jenes Kriegs sind noch nicht geheilt. Das tiefe Misstrauen beider Gemeinschaften hat zu der heutigen Lage geführt, in der die Schiiten weitgehend regieren, die Sunniten sich jedoch nicht von ihnen regieren lassen wollen. Terrorgruppen wie ISIS haben diese Spaltung ausnützen können, um unter den irakischen Sunniten Sympathisanten zu finden.
Studenten als Geiseln
Die ISIS-Kämpfer kamen bis auf wenige Kilometer an das Heiligtum von Samarra heran. Doch sie haben es nicht erreicht. Sie wurden, nach der Darstellung der Armee, durch Anti-Terror-Eliteeinheiten der Regierung zurückgeschlagen. Dabei wurden Kampfhelikopter eingesetzt.
An diesem Einsatz in Samarra nahmen auch Elite-Einheiten teil, die in der Gegend von Mosul stationiert waren. Diese Stadt wird von vielen verschiedenen Volks- und Religionsgruppen bewohnt. Die ISIS-Kämpfer nutzten die Abwesenheit der Elite-Einheiten und schlugen zu. Es kam zu Kämpfen in den Quartieren, die zurzeit noch andauern sollen. Mit Hilfe anderer Kräfte stürmten die ISIS-Leute das Universitätsgelände und nahm Studenten, die sich in ihren Wohnheimen befanden, gefangen. Dies war eine Propagandaaktion mit grosser Wirkung. Die Studenten gehörten in vielen Fällen einflussreichen und bekannten Familien an.
Maliki – nicht Herr der Lage
Die Studenten wurden schnell wieder frei gelassen. Doch die Überfälle machten klar, dass die Regierung von Ministerpräsident al-Maliki die Sicherheit in den sunnitischen Landesteilen nach wie vor nicht gewährleisten kann. Auch die fast täglichen Bombenattentate, die sich vor allem in den schiitischen Quartieren der Hauptstadt und in gemischten Gebieten, wie in der Provinz Diyala, machen deutlich, dass Maliki nicht Herr der Lage ist. Diese Anschläge kosten täglich Dutzende Tote und Verletzte.
Die al-Maliki-Regierung steht nach dem Wahlsieg des Ministerpräsidenten vor einer langen und komplexen Verhandlungsperiode. Es geht darum, eine mehrheitsfähige neue Regierung zu bilden. Maliki braucht Koalitionspartner, um seine Herrschaft weiter zu führen. Schläge, die sein Prestige vermindern, sind für ihn in dieser Lage besonders gefährlich. Potentielle Partner unter den Schiiten und besonders unter den Sunniten, könnten durch sie abgeschreckt werden. Sie könnten den Versuch unternehmen, ohne Maliki eine eigene Mehrheitskoalition zu schmieden. Wie immer diese aussehen würde, sie wäre den ISIS-Leuten lieber als ein weiteres Mandat Malikis. Ihn, den bisherigen starken Mann, betrachten die ISIS-Kämpfer als ihren Hauptfeind. Eine Koalition ohne ihn gäbe zwar – zumindest anfänglich – eine gebrechliche Regierung her – ein gebrechlichere als eine von Maliki dominierte.
Einfluss der Iraner und der Kurden
Die Verhandlungen um die nächste Koalition werden wahrscheinlich Monate dauern. Dies war der Fall bei der Bildung der letzten Koalitionsregierung. Die Nachbarn, in erster Linie die Iraner, werden ein wichtiges, möglicherweise ein entscheidendes Wort mitreden. Die Kurden sind in der Lage, eine Schlüsselrolle zu spielen. Sie werden es sich nicht nehmen lassen, ihr Gewicht voll zur Geltung zu bringen, um Konzessionen für ihren Landesteil zu gewinnen.
Maliki führt interimistisch die Regierung, bis eine neue gebildet ist. Deshalb stehen Armee und Polizei vorläufig weiter unter dem Befehl Malikis und seiner engsten Mitarbeiter. Auch deshalb werden lange Verhandlungen erwartet. Solange diese andauern, bleibt Maliki in führender Stellunng.
Der Irak rüstet auf
Man hat anzunehmen, dass die irakische Armee nach den Wahlen den Befehl erhielt, nun energisch gegen die aufständischen Sunniten in Anbar und anderorts vorzugehen. Die „Siegs-Communiqués“, die die Armee nach den Wahlen veröffentlichte, deuten darauf hin. Es scheint sich allerdings mehr um „Papiersiege“ als um echte Geländegewinne gehandelt zu haben.
Die irakische Armee hat noch keine wirkliche Luftwaffe, abgesehen von einigen Kriegshelikoptern. Doch ein riesiges Waffengeschäft mit den USA ist im Gange, das unter anderem auch amerikanische Kriegsflugzeuge umfasst. Im April wurde bekannt, der Irak habe 36 F-16-Kampfflugzeuge von den USA gekauft. Die ersten davon sollten noch dieses Jahr geliefert werden. Im Juni hiess es, dass ein weiteres Waffengeschäft in der Höhe von einer Milliarde Dollar abgeschlossen worden sei. Es umfasst weitere Kriegs- und Aufklärungsflugzeuge für 790 Millionen; dazu gepanzerte Fahrzeuge und Raketen. Dennoch ist damit zu rechnen, dass der Irak erst im Jahre 2020 in der Lage sein wird, seinen eigenen Luftraum zu verteidigen. Von Zeitpunkt der Flugzeuglieferung bis zur Schaffung einsatzbereiter Strukturen und der Ausbildung von Personal verstreichen Jahre.
Diese geplante Aufrüstung dürfte die Taktik von ISIS bestimmen. Die Terrorgruppe hat heute wahrscheinlich mehr Gewicht als Zawahiris Kaida. Sie wird wohl versuchen, die Zeit zu nutzen, um möglichst viel Terrain und Prestige zu gewinnen – all dies, bevor die irakische Armee in der Lage sein wird, sie auf dem Boden und von der Luft aus zu bekämpfen.