Nur wenn sie diese Probe bestehen kann, wird das demokratische Regime von Bagdad, das von den Amerikanern mit sehr viel Blutvergiessen eingeführt wurde, bestehen bleiben.
Schon seit Wochen begehrten sunnitische Demonstranten in der westlichen Wüstenprovinz Anbar auf. Jetzt gab es die ersten Toten. Und schon wurde Rache geübt.
Es waren die Soldaten der Armee, die zuerst das Feuer eröffneten. Fünf Demonstranten wurden erschossen und über 60 verwundetet. Dies geschah am 25. Januar, als eine Gruppe von Dorfbewohnern an der Hauptdemonstration von Fallujah (Falludscha) teilnehmen wollte. Die Soldaten versperrten ihnen den Weg, um eine Teilnahme zu verunmöglichen. Offenbar wurden Steine gegen die Armee geworfen. Diese schoss zurück.
An dem Begräbnis der fünf Opfer am nächsten Tag in der Stadt Ramadi haben Tausende wütender Sunniten teilgenommen. Bewaffnete haben mehrfach an verschiedenen Stellen in Anbar Soldaten angegriffen. Zwei Soldaten verloren dabei ihr Leben, einer wurde verwundet, drei wurden entführt.
Die Forderungen der Demonstranten
Die Sprecher der Demonstranten sind sowohl Geistliche wie auch Stammesführer. Sie stellen Forderungen auf und drohen, wenn diese nicht erfüllt würden, würden sie gegen die Armee vorgehen. Die Forderungen sind verschiedener Art. Manche gehen so weit, dass sie den Abzug aller Soldaten aus ihrer Provinz und den Rücktritt des Ministerpräsidenten verlangen.
Andere wiederholen die bisherigen Anliegen der Demonstranten: Befreiung der sunnitischen Gefangenen; Aufhebung der Anti-Terrorgesetze, von denen viele Sunniten sagen, sie würden angewandt, um die sunnitische Gemeinschaft niederzuhalten. Neu kommt dazu: Verurteilung der schuldigen Militärs, und zwar nicht in Bagdad, sondern in der Anbar-Provinz, wo sie ihre Tat begingen.
Die Regierung sucht ihrerseits der sunnitischen Täter, die zwei Soldaten umbrachten, habhaft zu werden. Natürlich will sie auch die drei Entführten befreien.
Abgleiten in die Gewalt
Die Regierung in Bagdad hatte versucht, keine Gewalt gegen die Demonstranten anzuwenden. Sie hatte allerdings periodisch gedroht, sie könnte dies möglicherweise tun. Die Regierung hatte auch einige der sunnitischen Gefangenen entlassen. Doch die Demonstranten waren von dieser Geste wenig beeindruckt. Sie sagten, die meisten der Entlassenen hätten ohnehin ihre Strafe verbüsst.
Die Demonstranten ihrerseits wollten ebenfalls Blutvergiessen vermeiden. Doch sie liessen sich in Zelten und Hütten am Rande und auf der Hauptstrasse nieder, die Bagdad mit Damaskus und mit Amman verbindet. So wurde der Verkehr auf dieser internationalen Autostrasse erheblich gestört.
Eine neue Politik der Regierung oder Bürgerkrieg
Nun ist auf beiden Seiten Blut geflossen. Jetzt müssen energische und tiefgreifende politische Schritte stattfinden, und zwar sofort. Oder es beginnt eine Form von Bürgerkrieg.
Die Lage ist umso gefährlicher als es bereits einen versteckten Bürgerkrieg gibt. Er manifestiert sich in Bombenanschlägen, die dieses Jahr weiter zugenommen haben und meist - aber nicht immer - gegen schiitische Ziele gerichtet sind. Sie sollen diesen Monat allein bereits 300 Todesopfer gefordert haben.
Eine Ausnahme stellt der grausame Anschlag vom 23. Januar dar. Er war nicht gegen schiitische Ziele gerichtet. Ein Selbstmordattentäter zündete bei einem Begräbnis in einer Moschee in Tuz Khormato eine Bombe. Fast 70 Menschen starben. Das Attentat richtete sich gegen Angehörige der turkmenischen Minderheit, die in mehreren Enklaven am Rande und innerhalb der kurdischen Provinzen lebt. Dieser Anschlag zielte offensichtlich auf die politischen Führungsfiguren der Turkmenen, die an der Begräbniszeremonie in Tuz Khurmato, südlich von Kirkuk, teilnahmen.
Kriegstraditionen in Anbar
Die Bewohner der Anbar-Provinz haben eine kriegerische Vergangenheit, auf die sie ohne Zweifel stolz sind. Ihre Provinz hatte zuerst den Amerikanern die meisten Verluste beigebracht, fast immer durch selbstgebastelte Bomben und Minen. Dann hatten sich ihre Kämpfer unter Führung der lokalen Scheichs von den radikalen Sunniten der Qaida losgesagt und waren 2007 auf die Seite der Amerikaner getreten. Diese nahmen sie als Söldnereinheiten in ihren Dienst. Die Hilfe der Stämme von Anbar trug entscheidend dazu bei, dass das Land sicherer wurde. Dies erlaubte schliesslich den Amerikanern, sich aus dem Irak zurückzuziehen. Später zeigten sich die Kämpfer von Anbar enttäuscht darüber, dass angebliche Versprechen, sie würden in die reguläre Armee des Iraks aufgenommen, nicht in Erfüllung gingen.
Nahe am Kriegsausbruch
Wenn ein "Krieg" der Sunniten von Anbar gegen die überwiegend schiitisch zusammengesetzte Regierung von Maleki ausbricht, kann das weitreichende Folgen haben. Dann könnten die mit Bomben kämpfenden "Terroristen", von denen die meisten aus dem sunnitischen Lager stammen, sich mit den Sunniten von Anbar zusammentun.
Die in Anbar lebenden sunnitischen Stämme haben enge Verbindungen zu den sunnitischen Stämmen, die ganz oder teilweise jenseits der syrischen Grenze leben. Zudem sympathisieren die Sunniten von Anbar mit den syrischen Rebellen - dies im Gegensatz zu den meisten Schiiten. Käme es also in Abar zu einem Aufstand gegen Bagdad würde die irakisch-syrische Grenze praktisch verschwinden. Es entstünde ein sunnitisches Rebellengebiet mit zwei Kampffronten: eine gegen Damaskus und eine gegen Bagdad gerichtet. Der irakische Staat wäre von Auflösung bedroht.
Politische Schritte als letzte Chance
Es ist an der irakischen Regierung oder, wenn sie endgültig versagt, am irakischen Parlament, zu verhindern, dass ein derartiges Unheilszenario Wirklichkeit wird. Es gibt Bewegung im Parlament. 170 der 325 irakischen Abgeordneten haben ein Gesetz verabschiedet, das dem Ministerpräsidenten verbieten soll, mehr als zwei Mandate im Amt zu bleiben. Dieses Gesetz ist gegen Maliki gerichtet, der bereits in seinem zweiten Mandat steht.
Doch das Gesetz wird erst gültig, wenn der irakische Staatspräsident es unterschreibt. Dieser, Jalal Talabani, liegt in Deutschland in einem Spital, um sich von einem Schlaganfall zu erholen. Ausserdem sagen die Verfassungsspezialisten, das Gesetz könnte gegen die Verfassung verstossen, weil diese nichts über mehrfache Amtsperioden des Ministerpräsidenten aussage. Darüber hinaus kann das Gesetz durch eine spätere Mehrheit im Parlament auch wieder rückgängig gemacht werden.
Kommt eine Anti-Maleki-Front zustande?
Die Abgeordneten der Opposition haben auch beschlossen, dem Parlament fernzubleiben, ausser wenn über die Frage der sunnitischen Demonstranten verhandelt werde - oder über ein Misstrauensvotum gegen Maleki. Wer genau zu dieser Opposition gehört, ist allerdings unklar. Maleki regiert mit einer grossen Koalition, die zahlreiche Minister und Vizeminister - allerdings meist bloss auf Nebenposten - von ausserhalb der Regierungspartei mit einbezieht. Wenn all die 170 Abgeordneten mitmachen, die der Beschränkung des Mandates Malekis zugestimmt haben, könnte die Regierung stürzen.
Kann Maleki über seinen Schatten springen
Maleki selbst ist nun auf die Probe gestellt. Wenn er sich weiter, wie bisher autokratisch verhält und sich auf seine ihm direkt unterstehenden irakischen Sicherheitskräfte und Armeeeinheiten stützt, wird er sein Land in einen Bürgerkrieg steuern. Nur wenn er über seinen eigenen Schatten springt und eine Politik der Versöhnung anstrebt, kann er dieser Gefahr möglicherweise ausweichen. "Möglicherweise" deshalb, weil unsicher ist, ob er mit einer Versöhnungspolitik bei den aufgebrachten Sunniten überhaupt noch ankommt. Kann er sowohl die gemässigten als auch die radikalen Sunniten, die seit jeher Bomben werfen, überzeugen?