Seit dem 30. Dezember ist die Regierung in Bagdad nicht mehr Herr über Anbar, die flächenmässig grösste Provinz des Landes. Wer diese Wüstenprovinz im Westen des Irak wirklich beherrscht, ist im Moment unklar.
Am Rande der beiden wichtigsten Städte von Anbar, Falluja und Ramadi, stehen Einheiten der irakischen Armee mit Panzer und Artillerie. Präsent in der Provinz sind auch Kämpfer von ISIS, der irako-syrischen Islamistengruppe, die sich der Qa'eda angeschlossen hat. Auch zwischen einzelnen Stämmen sind Kämpfe ausgebrochen. Es gibt Stämme, die sich auf die Seite der Regierungstruppen geschlagen haben und von den ISIS-Islamisten bekämpft werden. Andere Stämme arbeiten mit ISIS zusammen. Gemeinsam wollen sie die Regierungstruppen aus ihrer Provinz vertreiben. Die Zivilbevölkerung besteht fast ausschliesslich aus Sunniten.
Spannungen – neu anfachen
Mehr als 20‘000 sunnitische Familien sollen schon vor den Kämpfen geflohen sein. Sie fürchten, ihre Häuser könnten bombardiert werden. Einige sind schon mit Granaten beschossen worden. Die meisten Sunniten, die ihre Dörfer verlassen, flüchten Richtung Süden in die schiitische Provinz Kerbala. Ein Flucht Richtung Norden nach Mosul oder nach Südosten Richtung Bagdad ist nicht möglich. Die irakische Armee hat die Strassen dorthin gesperrt.
Laut allen Berichten werden die sunnitischen Flüchtlinge von ihren schiitischen Nachbarn im Süden wohlwollend aufgenommen. Dies, obwohl in Bagdad und in anderen gemischten Gebieten die Spannungen zwischen den beiden Konfessionen gefährlich wachsen. Diese Spannungen werden geschürt durch tägliche Bombenattentat in Bagdad und andern Städten, in denen Schiiten und Sunniten zusammenleben. Die Bombenleger versuchen offensichtlich, die Kämpfe zwischen den beiden Konfessionen neu anzufachen. Diese Kämpfe haben in den Jahren 2006 und 2007, zur Zeit der amerikanischen Besatzung, Tausende Todesopfer gefordert. Die damaligen Kampfhandlungen lösten einen riesigen Flüchtlingsstrom nach Syrien und Jordanien aus. Vor allem Sunniten waren es, die geflohen sind.
Maliki zögert
Anfang des Jahres trafen Meldungen ein, wonach die ISIS-Islamisten die beiden Städte Falluja und Ramadi eingenommen hätten. Die Regierung in Bagdad erklärte darauf, die Armee werde in einigen Tagen die Terroristen vertrieben und die beiden Städte befreit haben. Armeeeinheiten mit Tanks und schwerem Geschütz zogen in die Provinz und beschoss feindliche Stellungen aus einiger Entfernung. Auch Helikopter wurden eingesetzt. Doch die Armee hat nie versucht, in die beiden Städte einzudringen. Stattdessen fanden Verhandlungen statt.
Einige Stammesführer sprachen mit der Regierung. Sie machten ihr klar, dass die Stämme keinesfalls auf Seiten der ISIS-Islamisten stünden. Doch sie würden Partei für ISIS ergreifen, wenn die „schiitische“ Armee versuchen sollte, in Falluja und Ramadi einzudringen und die Provinz Anbar zu besetzen.
Auch aus Amerika kamen Warnungen an die Adresse des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki. Seine Regierung müsse auf politischem Weg versuchen, ihre Anbar-Provinz wieder zu kontrollieren. Allein durch Gewalt werde sie nie wieder die Ordnung herstellen können.
Die Stämme zwischen den Fronten
Einige der Stämme hatten früher mit al-Qaeda zusammengearbeitet. Doch dann, im Jahr 2008, erhoben sich einige der Stämme gegen die Terrororganisation und machten gemeinsame Sache mit den Amerikanern. „Al-Qaeda im Irak“ stand damals unter der äusserst brutalen Führung von Abu Musab al-Zerqawi stand. Der Aufstand der Stämme gegen al-Qaeda nennt man „Sahwa“ (englisch: „awakening).
Sowohl Zerqawi wie auch dessen Nachfolger waren durch amerikanische Luftschläge getötet worden. Die Qaeda-Leute schworen Rache gegen die Sahwa-Kämpfer, die sie als Verräter einstufen. Einige von ihnen sind in der Zwischenzeit in Bombenanschlägen ums Leben gekommen. Abu Bakr al-Bagdadi, der heute ISIS anführt, hatte unter Zerqawi an Einfluss gewonnen.
Hass auf Bagdad
Jene Stammesführer, die damals im Rahmen des Sahwa-Aufstandes gegen die Qaeda kämpften, können heute nicht mit den ISIS-Islamisten zusammenarbeiten. Doch viele sunnitische Stammesleute und Kämpfer, die damals nicht führend am Aufstand gegen die Qaeda beteiligt waren, sind heute gewillt, mit ISIS zusammenzuarbeiten. Hauptziel ist es, der Regierung in Bagdad die Stirn zu bieten denn der Hass der irakischen Sunniten auf die als "schiitisch" betrachtete Regierung in Bagdad hat ein noch nie dagewesenes Ausmass erreicht.
Anderseits ist anzunehmen, dass jene Stammesführer, die nicht mit ISIS zusammenarbeiten können, auf Seiten der Regierung stehen. Doch diese Stammeschefs sind es, die der Regierung klar gemacht haben, dass die gesamte lokale Bevölkerung sich gegen sie auflehnen werde, sobald ihre Armee Falluja und Ramadi besetzen würde.
Guerilla-Krieg?
Al-Maliki hat dies offenbar eingesehen. Mit den Stammesführern, die ihm zugeneigt sind, hat er ein Abkommen getroffen. Laut diesem sollen die Stammeskämpfer gegen ISIS vorgehen – und nicht die reguläre Armee. Die Stammeskämpfer waren von der Regierung mit Waffen versorgt worden. Die Armee selbst jedoch blieb am Rande der Städte stehen.
Den ehemaligen Sahwa-Kämpfern, meist aus dem Stamm der Dulaim, geht es aber auch darum, sich nicht mit anderen Anbari-Stämmen zu verfeinden. Sie trauen al-Maliki wenig. Er hatte sich geweigert, die Versprechen der Amerikaner zu erfüllen, nach denen die Sahwa-Kämpfer in die irakische Armee eingegliedert werden sollten. Die Stammeschefs wissen, wenn die "schiitische" Armee Malikis in Anbar eingreift, wird es zu einem Guerilla-Krieg gegen sie kommen. In diesem müssen alle Stämme zusammenwirken, wenn sie sich in ihren Wüsten wirksam verteidigen wollen. Die einstigen Sahwa-Führer ziehen es deshalb vor, mit ihren Stammesgenossen, die auf die Seite von ISIS getreten sind, zu verhandeln, statt auf sie zu schiessen.
ISIS sucht Anhänger
Die ISIS-Kämpfer, die sich offenbar in einigen Vierteln der beiden Städte halten, suchen ihrerseits möglichst viele der Stämme von Anbar auf ihre Seite zu ziehen, indem sie deren starke Ressentiments gegen die Maliki-Regierung schüren. Die irakischen Sunniten fühlen sich von dieser in ihren Augen "schiitischen" Regierung diskriminiert. Ihre gewaltlosen Demonstrationen gegen sie in Ramadi, die ein Jahr lang gedauert hatten, haben nichts gefruchtet. Maliki liess die Manifestationen am 30. Dezember mit Gewalt auflösen. Dies löste die gegenwärtigen Auseinandersetzungen aus.
Maliki war zuvor einige kleinere Konzessionen eingegangen, änderte jedoch nichts an seiner grundsätzlichen Haltung. Er vertraut weiterhin schiitischen Sicherheitskräften. Anderseits verdächtigt er die sunnitischen Iraker, mit den Terroristen zusammenzuarbeiten. Sogar sunnitische Angehörige seiner eigenen Koalitionsregierung mussten ins Ausland flüchten, weil Maliki glaubte, sie stünden im Dienste der Terroristen. Viele untergeordnete sunnitische Parteigänger sitzen im Gefängnis, meist ohne formelle Anklage. Doch sie sind es offenbar nicht, die Bombenanschläge verüben. Diese Politik Malikis hat dazu geführt, die Zahl der Bombenattentate, die schon im vergangenen Jahr stark zugenommen hat, weiter anwächst.
„Nach Bagdad kriechen“
In der vergangenen Woche hat Maliki 39 verurteilte Terroristen hängen lassen. Die Sunniten glauben nicht daran, dass sie rechtens verurteilt worden sind. All diese Spannungen suchen die ISIS-Kämpfer auszunützen. Ihr gegenwärtiger Chef, Abu Bakr al-Bagdadi, hat seine Kämpfer im Irak dazu aufgerufen, die "Gunst der Stunde zu nützen und bis nach Bagdad voranzukriechen". Das ist natürlich Propaganda. Diese ist nicht nur bestimmt, seine eigenen Anhänger zu ermutigen. Sie soll gewiss auch die Stammesleute dazu anregen, sich auf seine Seite zu stellen.
Sittenpolizei
In Falluja und Ramadi scheint es mehr bewaffnete Stammeskämpfer als bewaffnete ISIS-Islamisten zu geben. Laut eigenen Aussagen wissen jene Bewohner, die in den Städten geblieben sind, nicht, wer in den Strassen patrouilliert: Kämpfer der Stämme oder der ISIS. Es kommt vor, dass die Regierungstruppen, die vor den Städten Stellung bezogen haben, mitten in die Stadt hineinschiessen – ohne dass der Zweck solcher Attacken sichtbar wäre.
Die ISIS-Leute machen, den Schilderungen nach, Versuche, die Stadtbevölkerung zu organisieren und für sich zu gewinnen. Sie versuchen dabei, die Fehler zu vermeiden, die sie unter Zarqawi unbeliebt gemacht hatten. Hinrichtungen finden nicht statt. Sie versuchen mit den lokalen Stadträten zusammenzuarbeiten. Solche hatten sich nach dem Abzug der Polizei der in den Städten gebildet. Zudem wollen sie eine Sittenpolizei "zur Förderung des Guten und Verhinderung des Bösen" einführen.
Verbindungen zur früheren Baath-Partei
Es gibt Gewährsleute, die wissen wollen, dass ehemalige baathistische Offiziere aus der Zeit Saddams mit den ISIS-Gruppen zusammenarbeiten. Sie sollen ihnen als Berater für militärische Fragen dienen.
Ein Oberst aus der „baathistischen Armee Saddam Husseins, Brigadegeneral Hajji Bakr, habe sich einen Bart wachsen lassen und „Reue“ bekundet. Er soll ein enger Berater des Emirs von ISIS, Abu Bakr al-Bagdadi geworden sein. Dies geht aus einer nicht kontrollierbaren, aber glaubwürdig wirkenden Twitter-Darstellung hervor. Diese hat der Syrien-Fachmann Joshue Landis übersetzt, veröffentlicht und "allem Anschein nach als authentisch" befunden. Danach wirke Hajji Bakr als Chef eines dreiköpfigen Militärrats. Er habe al-Bagdadi geraten, eine Sicherheitsorganisation für seine eigene Sicherheit und die Überwachung seiner Kämpfer aufzustellen. Auch die Finanzen will er – und zwar er selbst - in den Griff bekommen. Die Sicherheitsorganisation habe er aus ehemaligen Offizieren zusammengestellt.
Malikis Erdöl-Problem
Die Ereignisse in der Anbar-Provinz ist nur eines der Probleme, mit denen Maliki zu kämpfen hat. Er steht auch vor Schwierigkeiten in der Erdölpolitik. Die Kurden wollen ihr eigenes Erdöl nach der Türkei exportieren. Maliki hingegen sagt, Erdöl sei ein nationales Gut und gehöre unter die Kontrolle des Erdölministeriums von Bagdad.
Gleichzeitig hat die erdölreiche Provinz von Basra Ansprüche angemeldet. Sie will vermehrt von den Erdöleinnahmen profitieren. Sie drohte, die Erdölleitungen nach dem Norden zu sperren, wenn ihrem Verlangen nicht statt gegeben werde.
Wahlen im April?
2010 gelang es Maliki eine Koalition aller schiitischen Parteien zu bilden. Dieser Koalition verdankte er schliesslich seinen Sieg. Er hatte zwar zwei Sitze weniger als sein wichtigster Rivale errungen. Aber nach Monaten inneren Ringens konnte er doch die Regierung bilden, weil sein Opponent, Ayad Allawi, keine Koalitionspartner fand.
Jetzt sollen Ende April wieder Parlamentswahlen stattfinden. Bisher ist es Maliki nicht gelungen, die schiitischen Parteien zu einer Koalition zu bewegen. Wenn die Wahlen wirklich stattfinden und wenn sie ehrlich durchgeführt werden, hat Maliki diesmal keine sehr guten Aussichten.
Aufteilung des Irak?
Es geht aber nicht nur um Malikis Zukunft, sondern auch um jene des gesamten Staates Irak. Die heute geltende Verfassung, die zur Zeit der Amerikaner geschrieben wurde, sieht vor, dass das künftige Parlament beschliessen muss, ob der Irak eine föderative Struktur erhalten soll - oder ob er ein zentralisierter Staat bleibe.
Jedoch keines der seither gewählten Parlamente hat sich dazu entschliessen können, dieses heisse Eisen anzupacken. Ein Provisorium lebte sich ein, nach dem die Kurden ihre eigene sehr weit gehende Autonomie bewahrten und ausübten. Der Rest des Landes bleib jedoch unter der direkten Kontrolle Bagdads. Dabei ist jedoch die genaue Abgrenzung zwischen dem kurdischen Staat und der Zentrale in Bagdad problematisch. Am heikelsten ist sie in Sachen Kirkuk. Wobei es nicht nur um die Stadt, sondern auch um die dortigen Ölfelder geht.
Auch die Sunniten denken an Autonomie
Heute geht es aber um mehr als bloss um die (immer noch unvollständig gelöste) kurdische Frage. Die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten, die sich seit der amerikanischen Zeit immer mehr vertieft hat, hat nun zur Folge, dass auch die Sunniten an Autonomie für ihre nordwestlichen Landesteile denken. Unter den Schiiten des Südens gibt es Bestreben, ihrerseits mehr Unabhängigkeit zu geniessen und über das eigene Erdöleinkommen selbst zu verfügen. Die jüngsten Spannungen über das Erdöleinkommen zwischen Bagdad und Basra machen dies deutlich.
Wenn es Maliki nicht gelingt, Anbar wieder unter seine Kontrolle zu bringen, könnte dies dazu führen, dass die Frage des Aufbaus des irakischen Staates neu aufgeworfen wird. Entweder wird dann eine Lösung gefunden – oder die blutigen Auseinandersetzungen werden noch blutiger.