Gastkommentar von Werner Vontobel. Unsere Wirtschaftswissenschaft und -politik beruht auf Annahmen, die schon vor 50 Jahren nur knapp zutreffend waren. Wir müssen das neu aufgleisen. Es geht darum, den Markt vernünftig zu dosieren.
Die Wirtschaft, das Zusammenspiel von Millionen von Konsumenten und Arbeitskräften, zehntausenden von Firmen, Staaten etc. ist eine hochkomplexe Sache. Da muss man notgedrungen mit Modellen arbeiten. Und je intensiver man das tut, desto mehr läuft man Gefahr, das Modell mit der Wirklichkeit zu verwechseln und/oder, diese dem Modell anzupassen.
Die «dreissig goldenen Nachkriegsjahre»
Das Grundmodell der Ökonomie, in das ich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre an der Uni Basel eingeweiht worden bin, ist simpel. Ausgedrückt im Jargon der Ökonomen geht das so: Alle Wirtschaftssubjekte sind sowohl als Konsumenten als auch als Arbeitnehmer Nutzenmaximierer. Sie erwerben immer das Produkt, das ihnen zum tiefsten Preis den höchsten Nutzen bietet. Und sie arbeiten nur so lange, als der Nutzen aus dem zusätzlichen Lohn das «Grenzleid» der zusätzlichen Arbeit übersteigt.
Zudem sorgt der «atomistische Wettbewerb» unter den Produzenten dafür, dass jeder Produktivitätsgewinn an die Konsumenten weitergegeben werden muss. Unter diesen Voraussetzungen tendiert diese Modellwirtschaft zum Gleichgewicht. Sie kennt weder Arbeitslosigkeit noch zunehmende Ungleichheit.
In den ersten rund 30 Nachkriegsjahren war dieses Modell ein recht gutes Abbild der Realität. Beispiel Deutschland: Von 1950 bis 1980 gab es dort nur gerade ein Jahr mit einem negativen BIP-Wachstum. Die Produktivität pro Arbeitsstunde stieg im Jahresmittel um fast 5 Prozent, und das nutzten die Deutschen, um die wöchentliche Arbeitszeit um nicht weniger als 14 Stunden zu senken. Alle profitierten. In ganz Westeuropa sprach man von den «dreissig goldenen Jahren».
Nach der zweiten Erdölkrise von 1979
Ein kleines Problem blieb – die konjunkturellen Schwankungen. Die erklärte man mit dem Auf und Ab der privaten Investitionen – womit sich die Lösung auch schon aufdrängte: Der Staat musste mit seinen gegenläufigen Defiziten und Überschüssen die Wogen glätten. Das nannte man Keynesianismus nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Das war das geistige Umfeld, in dem meine Generation von Ökonomen ausgebildet worden ist. Wir wussten, dass unsere Wettbewerbswirtschaft den technologischen Fortschritt weiterhin in steigenden Wohlstand für alle ummünzen würde. Unsere Kinder würden es noch besser haben als wir. Schliesslich hatten wir Ökonomen und die Wirtschaftspolitiker die dazu notwendigen Werkzeuge in der Hand.
Nach der zweiten Erdölkrise von 1979 wurde der konjunkturelle Pfad holpriger. Das konnte aber den Glauben der Ökonomen an die wohlstandsstiftende Kraft des Marktes nicht erschüttern. Im Gegenteil: Nicht der Markt, sondern der Staat hatte versagt. Die konjunkturellen Schwankungen sollten jetzt nicht mehr durch die staatliche Fiskalpolitik, sondern durch die Steuerung der Geldmenge geglättet werden. Die Regierung wurde durch die Notenbank ersetzt, die Politiker durch die Technokraten des Finanzmarkts.
Das war der Siegeszug des Monetarismus – verkörpert durch Milton Friedman. Auch andere staatliche Eingriffe, etwa in die Lohnpolitik, wurden zurückgedrängt. Wir brauchten einfach noch mehr Wettbewerb, dann würden wir schon wieder «auf den Wachstumspfad einschwenken». So denken viele noch heute.
Was war da schief gelaufen?
Doch die entsprechende Liberalisierung und die Restrukturierungsmassnahmen machen die Sache nicht besser. Die Arbeitslosigkeit blieb, die Einkommensunterschiede nahmen zu. Die Marktwirtschaft hatte ihren Zauber verloren. Doch warum? Was war da schief gelaufen? Um diese Frage zu beantworten, musste ich mich vom Denken im Modell lösen und mich bei den breiter aufgestellten Wirtschaftshistorikern kundig machen. Von Paul Bairoch habe ich gelernt, dass alle ökonomischen «Gesetze» immer nur so lange gelten, bis die nie hinterfragten Annahmen, auf denen sie beruhen, von der Geschichte überholt werden.
Und John P. Powelson, der in seinem Wälzer «Centuries of Economic Endevour» die wirtschaftliche Entwicklung seit dem Mittelalter in vier Kontinenten untersucht hatte, lehrte mich, dass eine kontinuierliche ökonomische Entwicklung immer nur unter den Bedingungen eines ungefähren Gleichgewichts der sozialen Macht in Gang gekommen ist.
Teilzeitjobs und versteckte Arbeitslosigkeit
So gesehen war das eine Bestätigung des Gleichgewichtsmodells der Ökonomen, wenn auch mit einer wesentlichen Einschränkung: Das Gleichgewicht ergibt sich nicht automatisch aus Angebot und Nachfrage, sondern muss immer wieder politisch erstritten werden. Damit konnte ich meine Frage nach dem, was da ab 1980 schief gelaufen war präzisieren: Welche der Grundlagen des politischen Gleichgewichts, auf denen das «Wunder» der dreissig goldenen Jahre beruht, sind seither erodiert oder verschwunden?
Eine erste fehlende Grundlage war schnell gefunden: Gemäss dem Modell beruht das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt darauf, dass die Arbeitsuchenden ihren Nutzen dadurch maximieren, dass sie bei steigender Produktivität weniger arbeiten. Diese Annahme ist total unrealistisch. Industriearbeit wird kollektiv organisiert. Da ist kein Platz für individuelle Nutzenmaximierung. Die kürzeren Arbeitszeiten, die 5-Tagewoche, längere Ferien, die Verrentung mit 65, all das war nicht das Ergebnis von Angebot und Nachfrage, sondern wurde politisch erstritten. Seit Ende der 1970er Jahre stockt dieser Prozess. Inzwischen klafft zwischen der durchschnittlichen und der «regulären» Arbeitszeit eine Lücke von fast 10 Wochenstunden. Sie wird «gefüllt» von Teilzeitjobs, Arbeit auf Abruf, Gig-Jobs sowie von versteckter und offener Arbeitslosigkeit.
Der zweite Punkt ist zugleich subtiler und grundlegender: Das Modell geht davon aus, dass Arbeit ein Kostenfaktor ist, etwas, was wir lieber meiden. Im Studium sprachen wir vom «Grenzleid der Arbeit». Ziel der Wettbewerbswirtschaft ist, mit einem möglichst sparsamen Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit, möglichst viel Zeug herstellen und konsumieren zu können.
Jobs – begehrt für die soziale Integration
Diese Betrachtung blendet aber die mit der Arbeit befriedigten sozialen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und sozialer Integration aus. Der Nutzen der Arbeit liegt nicht nur im produzierten Gut, sondern auch in der dadurch geschaffenen sozialen Integration. Das war schon in der Nachkriegszeit so, doch damals überwog der Nutzen der Produkte. Wurde eine Schokoladefabrik gebaut, freute man sich auf Schokolade. Heute freut man sich über die Jobs, die damit «geschaffen» werden. Zeug haben wir eh schon genug.
Jenseits der Sättigungsgrenze wechselt die Arbeit in der ökonomischen Gleichung gleichsam das Vorzeichen. Aus dem Produktionsfaktor wird ein begehrtes Produkt. Das war das Ende des Gleichgewichts. Die Arbeitgeber waren nun voll am Drücker. Sie können nicht mehr nur ihre Produkte verkaufen. Sie konnten darüber hinaus auch die Arbeit, die sie «schaffen», an den meistbietenden Standort verhökern – gegen Steuer-Vergünstigungen, billiges Bauland, Investitionshilfen etc. Für die Arbeitnehmer (bzw. für viele von ihnen) heisst das, dass sie das Privileg, arbeiten zu dürfen, mit Löhnen am oder unter dem Existenzminimum bezahlen. Der Staat seinerseits musste die so entstandenen Einkommensunterschiede mit mehr Sozialausgaben auf ein erträgliches Mass reduzieren. Wobei es ihm der Steuer- und Standortwettbewerb schwer macht, die dafür erforderlichen Mittel einzutreiben.
Was unsere Lebensqualität beeinflusst
Die Wirtschaft beeinflusst heute unser Wohlergehen weniger durch die Menge und Art der hergestellten Güter als vielmehr dadurch, wie sie unsere Gesellschaft organisiert oder desorganisiert. Wir brauchen ein steigendes BIP nicht, um mehr Zeug, sondern um weniger Arbeitslosigkeit zu haben. Doch Arbeitslosigkeit ist nicht alles: Unsere Lebensqualität wird auch durch unregelmässige Arbeitszeiten, lange Arbeitswege, Arbeit auf Abruf, häufige Stellenwechsel usw. negativ beeinflusst.
Umgekehrt tut Arbeitslosigkeit dann weniger weh, wenn jemand in einem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld gut eingebettet ist und dort produktiv – wenn auch unentgeltlich – tätig werden kann. In den Nachkriegsjahren waren diese Aspekte auch schon wichtig, aber sie konnten für die Belange der Wirtschaftspolitik vernachlässigt werden. Heute wäre das ein grober Fehler.
Anfänglich eine riesige Erfolgsgeschichte
Das heisst, dass wir für die postmaterialistische Zeit eine Ökonomik brauchen, die alle Tätigkeiten und alle Bedürfnisse umfasst. Die Hauptfrage, die sich dabei stellt, ist die: Welche unserer Tätigkeiten koordinieren wir mit Vorteil über den Markt und wann verlassen wir uns lieber auf den völlig anders gelagerten Koordinationsmechanismus der traditionellen Bedarfswirtschaft? Traditionelle Markt-Ökonomen haben diese Frage gar nie gestellt. Leider. Denn erst diese Frage macht die Ökonomie zu einer echten (Human-) Wissenschaft.
Das Wirtschaften hat ja nicht mit dem Geld angefangen, sondern damit, dass unsere Vorfahren Netze von gegenseitigen sozialen Verpflichtungen geknüpft haben. Das hat ihnen erlaubt, in grösseren Gruppen zusammenzuarbeiten und das Risiko zu teilen. Dieser evolutionäre Prozess hat sich in das Belohnungszentrum unseres Gehirns einprogrammiert. Deshalb organisieren wir die (unbezahlte) Arbeit seit jeher so, dass sie Spass macht, dass wir motiviert bleiben. Oder sie drängt uns, Geschenke zu erwidern, oder andere durch unsere Geschenke in Pflicht zu nehmen.
Mit dem Geld haben wir (und nur wir Menschen) noch eine neue Art der sozialen Verpflichtung erfunden. Das hat es uns ermöglicht, die Zusammenarbeit weit über den Kreis von etwa 500 Bekannten auszudehnen. Das war anfänglich eine riesige Erfolgsgeschichte. Dank dem Markt haben wir einen zuvor undenkbaren materiellen Wohlstand erreicht. Dieser Erfolg hat uns bewogen, möglichst viele wirtschaftliche Tätigkeiten dem Markt unterzuordnen. Für die Ökonomen sind Markt und Wirtschaft ein und dasselbe.
Den Markt vernünftig dosieren
Inzwischen ahnen wir, dass wir damit zu weit gegangen sind und dass wir lernen müssen, den Markt vernünftig zu dosieren. Dazu brauchen wir eine Ökonomik, die alle produktiven Tätigkeiten und alle Bedürfnisse umfasst. In unserem Buch «Eine Ökonomie der kurzen Wege» habe ich zusammen mit Fred Frohofer die Grundlagen einer solchen Ökonomik skizziert. Zugleich haben wir gezeigt, welche erfreulichen Perspektiven sich eröffnen, wenn wir uns weniger auf den Markt und mehr auf den traditionellen Koordinationsmechanismus der Bedarfswirtschaft verlassen.
Mehr dazu in einem Folgeartikel.