Seine Geschichte hat Pedro Matias schon oft erzählt. Aber immer noch ist der Journalist tief betroffen über das, was ihm zugestossen ist: „Sie bedrohten mich mit einer Waffe, zwangen mich, aus dem Wagen zu steigen und mich auszuziehen.“ So berichtet der 45 Jährige von jenem 25. Oktober 2008, an dem Unbekannte ihn in seiner Heimatstadt Oaxaca entführten. Dann hätten sie ihn in den Kofferraum geworfen und kreuz und quer durch die Gegend gefahren. Etwa 12 Stunden später sei er auf einem Feld ausserhalb der Stadt Oaxaca aus dem Auto geworfen und liegen gelassen worden. Bis heute weiss Matias nicht, wer hinter der Tat steckt und was die Täter von ihm wollten.
Die Entführer hätten sich als Mitglieder der „Zetas“, einer zum Golfkartell gehörenden Killertruppe, ausgewiesen. Das aber will der Journalist nicht glauben. Noch nie habe er über die Machenschaften der Drogenmafia geschrieben. Pedro Matias hat einen anderen Verdacht.
Er schreibt in regierungskritischen Publikationen über brutale Polizisten, korrupte Richter und mächtige Grossgrundbesitzer. In Oaxaca erlebte er, wie 2006 ein Volksaufstand während mehreren Monaten gegen das Regime des umstrittenen Gouverneurs Ulises Ruiz protestierte. „Wenn es deine Arbeit ist, die Regierung zu kritisieren, die Menschenrechte einzuklagen, dann wird man zum Hindernis,“erklärt Matias. Deshalb glaubt der Journalist, die Verantwortlichen sässen in der Regierung. Beweise dafür hat er keine.
Immer mehr Journalisten Opfer staatlicher Gewalt
Was Pedro Matias erdulden musste, ist in Mexiko Hunderten von Medienleuten zugestossen. Auf der Liste der Verbrechen gegen Medienschaffende befindet sich das Land auf den vordersten Rängen. Das Zentrum für soziale Kommunikation – eine nicht staatliche Organisation – registrierte 2009 insgesamt 244 Angriffe gegen mexikanische Medien. Seit der Machtübernahme von Präsident Felipe Calderón Ende 2006 sind 43 Medienvertreter getötet worden, 12 Journalisten sind verschwunden. Die Regierung sieht die Drogenmafia als Hauptschuldige der Gewalt gegen Journalisten, eine Behauptung, die in der Berichterstattung über Mexiko oft unkritisch übernommen wird. In Wirklichkeit wurden zwei Drittel der Gewaltverbrechen von lokalen und regionalen Behörden verübt, nur ein kleiner Teil von Mitgliedern der organisierte Kriminalität.
Medienschaffende werden immer häufiger zu Opfern staatlicher Gewalt, weil sie im „Drogenkrieg“ zwischen die Fronten geraten. Wenn sie über Menschenrechtsverletzungen der Polizei und Armee berichten oder schlimmer, wie die Sicherheitsorgane des Staates selber mit dem Drogenhandel verstrickt sind, dann werden sie in den Augen der Sicherheitskräfte zu Verbündeten der Drogenmafia.
Flucht in die Selbstzensur
Der „Krieg gegen den Drogenhandel“ gibt der Regierung die Möglichkeit, unbequeme Journalisten wie Pedro Matias einzuschüchtern oder für immer mundtot zu machen. Aus diesem Grund ist es auch nicht erstaunlich, dass keiner der Morde an Journalisten bis heute aufgeklärt worden ist.
Aus reinem Selbstschutz flüchten immer mehr Journalisten in die Selbstzensur oder ziehen es vor, ganz zu schweigen. Mit schwerwiegenden Folgen, wie Catalina Botero von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte befürchtet: „Wenn die Gesellschaft nicht mehr darüber spricht, dann entsteht das für das organisierte Verbrechen perfekte Klima, auch die noch nicht betroffenen Institutionen zu infiltrieren.“
Ein General spricht Klartext
General José Francisco Gallardo ist kein gewöhnlicher Militär. In den 90er Jahren wurde er von einem Militärgericht für seine Forderung nach einem Ombudsman für Menschenrechte im Militär unter falschen Vorwürfen zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt. Davon musste er bis 2003 acht Jahre absitzen, bevor der Interamerikanische Menschenrechtshof seine Freilassung erwirken konnte. Bei einem Treffen auf dem Campus von Mexikos führender Universität UNAM, wo der bis heute noch nicht rehabilitierte General ausser Dienst Vorlesungen gibt, spricht Gallardo Klartext.
Seit 2006, als Präsident Calderón nach seiner umstrittenen Wahl der Drogenmafia den Krieg erklärt hatte, seien etwa 200 000 Soldaten desertiert, was zwei Dritteln des Gesamtbestandes der Streitkräfte entspreche. Dieser spektakuläre innere Zerfall der Sicherheitsstrukturen ist für Gallardo so zu erklären: „Hier äussert sich der Unmut der Streitkräfte, im Widerspruch zur Verfassung und völlig unvorbereitet von heute auf morgen, die Arbeit der Polizei übernehmen zu müssen.“ Vor allem Elitetruppen seien zum „Gegner“ übergelaufen, weil sie dort besser bezahlt und ausgerüst würden. Die zur Zeit am meisten gefürchtete „Zetas“ ist aus ehemaligen Soldaten hervorgegangen
Der sogenannte „Drogenkrieg“ ist ein auf das Militärische begrenzter Kampf der Regierung gegen selektiv ausgewählte Mafiastrukturen und hat bisher zwischen 28 000 und 32 000 Tote gefordert.
Welche Rolle spielen die USA?
Gallardo hinterfragt auch die Rolle der USA. Sie finanzieren Mexikos Drogenkrieg mit Milliarden. Gleichzeitig sind sie mit Beratern des Pentagons und Beamten der US-Drogenbekämpfungsagentur DEA direkt im „Krieg gegen den Drogenhandel“ involviert. In welcher Funktion und in welchem Umfang, darüber gibt es nur Gerüchte und Spekulationen. Gallardos Vorwurf überrascht deshalb nicht, den USA gehe es in Wirklichkeit weniger um den Kampf gegen die Drogen, im Visier stünden vielmehr Mexikos natürliche Ressourcen (Oel, Mineralien, Wasser, Biodiversität etc). Und Mexiko diene Washington nur als Plattform, um von hier aus den Einfluss auf den übrigen „Hinterhof“ wieder zu stärken.
Die Drogenmafia schafft Arbeitsplätze...
Im Touristenparadies Acapulco mit mehr als einer Million Einwohnern gibt es, so mit der Szene vertraute Quellen, etwa 500 Drogenverkaufspunkte. Diese kleinsten Ableger des Drogenhandels bieten Tausenden einen Arbeitsplatz. Jeder Verkaufspunkt, so die gleichen Quellen, beschäftigt zwischen 15 und 30 Personen: Aufpasser, Kuriere, Strassendealer, Köchinnen usw. Gemäss Angaben der Regierung schafft Mexikos organisierte Kriminalität direkt rund 400 000 Arbeitsplätze und ebenso vielen Grossfamilien ein Einkommen.
Mexikos vorrangiges Problem ist nicht der Drogenhandel sondern die Beschäftigung, Seit Mexiko der nordamerikanischen Freihandelszone angehört (1994) haben Millionen von Kleinbauern ihre Existenz verloren, weil sie mit dem hochtechnisierten Agrobusiness der USA nicht mehr konkurrieren können. Sie sind in die USA ausgewandert oder versuchen, im sogenannten „informellen Sektor“ zu überleben, zu dem auch der Handel mit Drogen, Waffen und Frauen gehört
...und Identität für eine verlorene Generation
Sieben Millionen Jugendliche werden der Generation „Ni – Ni“ zugerechnet, „ni estudio, ni trabajo“ (keine Ausbildung – keine Arbeit). Beruflich, schulisch, religiös oder sportlich gibt es für sie nichts, was ein ähnliches Gefühl von Zugehörigkeit zu bieten hätte wie das organisierte Verbrechen. Die Kartelle bieten eine Identität und einen gemeinsamen Kodex.
Gemäss Angaben der Regierung wurden zwischen Dezember 2006, als Präsident Calderón den Drogenkrieg ausrief, und März 2010 über 120 000 Personen unter dem Verdacht verhaftet, dem organisierten Verbrechen anzughören. US-amerikanische Unterschungen stellen ein selektives Vorgehen fest: Nur gerade elf Prozent der Verhaftungen richteten sich gegen das mächtige Sinaloa-Kartell, während dessen Konkurrenz die Hälfte der Verhaftungen traf. Der wichtigste Grund für diese Differenz ist die Korruption in der Staatsanwaltschaft
Wenig Verurteilungen
Letztinstanzliche Verurteilungen in Sachen Drogenhandel wurden bis Februar 2010 aber nur 735 ausgesprochen. Warum so wenig Urteile ? Die Untersuchungsbehörden arbeiten nicht seriös, die Gerichte können die Verhaftungen nicht verarbeiten
Kapitalflüsse werden nicht aufgedeckt
Ganz im Dunkeln bleiben die Kapitalflüsse des Drogenhandels. Der US-Politologe George Friedman schätzt den Erlös aus dem Drogenschmuggel für die mexikanischen Kartelle – bei einer Gewinnmarge von rund 80 Porzent – zwischen 35 und 40 Milliarden Dollar. Gemäss dieser Schätzung wäre der illegale Export von Drogen in die USA nach den Gewinnen aus der nationalen Erdölproduktion die zweitwichtigste Einkommensquelle des Landes.
Ein beträchtlicher Anteil der Einnahmen aus dem Drogenhandel wird durch Investitionen in Mexiko gewaschen und in den Kreislauf der legalen Wirtschaft eingespeist. Oft scheint den mexikanischen Fahndern bekannt zu sein, in welche Unternehmen der Erlös aus dem Drogenhandel fliesst. Ein polizeilicher Zugriff erfolgt jedoch entweder gar nicht oder nur dem Schein nach. Auch deshalb wird über eine verdeckte Komplizenschaft zwischen Regierung und Drogenhandel spekuliert. Das Einfrieren von Guthaben bekannter Drogenbosse und ihrer Strohmänner, so eine andere These, könnte sogar die wirtschaftliche Stabiliät des Landes gefährden. Mit anderen Worten: Mexiko befindet sich in Geiselhaft des Drogenhandels.
„Wo bleibt der andere Teil der Erzählung?“
Calderón hatte 2006 entschieden, sich auf eine direkte Konfrontaion mit den ungleich besser ausgestatteten und international operierenden Rauschgiftkartellen einzulassen. Ueber seine wahren Motive kann man nur spekulieren.
Fest steht: Der Krieg gegen die Drogen treibt die Preise für Rauschgift in die Höhe, ohne die Nachfrage zu senken. Die finanziellen Strukturen der Drogenkartelle und die Unterwanderung hoher Regierungskreise funktionieren nach wie vor. Drei ehemalige Präsidenten von Brasilien, Mexiko und Kolumbien sowie bekannte Intellektuelle fordern eine Legalisierung der Drogen und stellen fest, dass Mexiko nur zusammen mit der internationalen Gemeinschaft die Drogenmafia neutralisieren könne.
Anders formuliert das Dilemma seines Landes der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro: „Mexiko liefert die Toten, das heisst die Geschichten. Wo bleibt der andere Teil der Erzählung ?“ Zum „anderen Teil der Erzählung“ gehört das im Dunkeln bleibende weitere Umfeld der Drogenbosse und ihrer Strohmänner: Ihre ungestörten Beziehungen zu Banken, Wirtschaft und Politik. Und natürlich die Millionen von Konsumenten in den USA und Europa.
Bei uns beschränkt sich das Drogenproblem auf den Konsum und dessen Auswirkungen. Mexiko und viele Länder Lateinmerikas sind zusätzlich mit Gewalt, dem organisierten Verbrechen, der Korruption und der Arbeitslosigkeit konfrontiert. Wenn die nächste Schlagzeile über weitere Opfer in Mexikos „Drogenkrieg“ zu lesen ist, stellt sich erneut die Frage: „Wo bleibt der andere Teil der Erzählung ?