War oder ist die Occupy-Bewegung real oder doch eher virtuell?, sinnierte die Frankfurter Rundschau. Und Andrea Meier fragte in der Sendung Kulturzeit am 8. Februar 2012 auf 3sat den Kulturjournalisten und Occupy-Aktivisten Mark Greif, was diese Bewegung unter dem Strich gebracht habe. Der antwortete höflich, dass es vor einem halben Jahr noch unmöglich gewesen sei, in den USA öffentlich über „ungleiche Einkommen“ und „Ungerechtigkeit“ zu sprechen. Das habe sich dank „Occupy Wall Street“ geändert. Immerhin habe der Präsident in seiner „Rede zur Lage der Nation“ darauf hingewiesen.
Die Ohnmacht der Vernunft
Die Fragen sind aber falsch gestellt. Sie unterstellen, dass eine Protestbewegung wie „Occupy Wall Street“ eine nachvollziehbare Ratio haben, also eine genaue Ziel- und Wegbeschreibung mit sich führen müsse. Warum aber sollte eine Protestbewegung rationaler sein als das, wogegen sie sich richtet? Liegt nicht die eigentliche Tragik unserer Zeit darin, dass sich die in ihr wirksamen Kräfte nicht mehr mit den Kategorien der Vernunft beschreiben lassen?
Die „Torheit der Regierenden“, so der Titel des berühmten Buches der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchmann, zieht sich wie ein roter Faden durch die Weltgeschichte. In unseren Tagen neu ist aber die Tatsache, dass nicht nur offensichtliche Torheit eine fatale Rolle spielt, sondern Dynamiken, die von der Vernunft nicht mehr kontrolliert und gelenkt werden können.
Organisierte Unverantwortlichkeit
Ein kurzer Blick auf soziologische Analysen der achtziger und neunziger Jahre zeigt, dass sich seitdem ein qualitativer Sprung ereignet hat. So machte Niklas Luhmann auf zwei Punkte aufmerksam: Je weiter sich die Wissenschaft entwickelt und je wichtiger Experten werden, desto mehr wächst die Unsicherheit. Denn jede neue Erkenntnis stellt bisheriges Wissen in Frage, und Experten widersprechen sich. Als zweites gibt es keine einheitliche Vernunft mehr, die für alle gesellschaftlichen Instanzen verbindlich wäre. Politiker „ticken“ nach anderen Regeln als Juristen, die Medien folgen anderen Regeln als etwa die Bürokratie.
Ulrich Beck hat diesen Gedanken unter dem Stichwort der „organisierten Unverantwortlichkeit“ vereinfacht und popularisiert. So seien in der Industrie Planungs-, Entscheidungs, Produktions- und Verwaltungsprozesse so fragmentiert, dass es niemanden gäbe, der „in letzter Instanz“ für einen Fehler oder gar eine Katastrophe verantwortlich gemacht werden könnte. Der Naturwissenschaftler kann nichts für das, was Techniker mit seinen Entdeckungen anstellen, die Ingenieure sind nicht für die Produktplanung eines Unternehmens verantwortlich, und das Management kann wiederum nichts für etwaige Fehler im Produktions- oder Steuerungsprozess.
Ausweglosigkeit
Das, wogegen die Occupy-Bewegung angetreten ist, unterscheidet sich davon. Es geht nicht mehr, wie Luhmann und Beck analysiert haben, um die Verselbständigung einzelner Instanzen, Gruppen oder Organisationen mit ihren spezifischen Logiken. Vielmehr handelt es sich darum, dass sich die entscheidenden ökonomischen Einflussgrössen in der globalisierten Welt dem rationalen Zugriff mehr und mehr entziehen. Um diesen Punkt intuitiv zu markieren, hat die Occupy-Bewegung den Begriff der Gier verwendet. Das ist zwar eine grobe Vereinfachung, aber richtig daran ist, dass man der Gier die Eigenschaft zuschreibt, den gesunden Menschenverstand ausser Kraft zu setzen.
Die ökonomischen und wirtschaftlichen Diskussionen der vergangenen Monate zeigen nur eines: Ausweglosigkeit. Sparen führt in die Rezessionsfalle, das Nachschiessen von Geld in die Schuldenfalle. Politisch gewendet: Sparen führt in Chaos, Radikalisierung, Unregierbarkeit oder Diktaturen, das Nachschiessen von Geld führt zum Reformstau. Egal, wie am Ende entschieden oder nicht entschieden wird, jede Option oder jede Blockade führt zu Nebenwirkungen, die die besten Absichten zuverlässig in ihr Gegenteil verkehren.
Die Obdachlosen, die in den USA zum Teil auf Zeltplätzen leben oder sonst im Freien hausen, die Verelendung und die immer brüchigere staatliche Infrastruktur in Südeuropa zeigen, wie stark bereits die Substanz des Westens angegriffen ist.
Die Hohen Priester der Politik"
Wenn hierfür böse Mächte oder die „Torheit der Regierenden“ verantwortlich gemacht werden könnten, gäbe es immerhin einen Silberstreif der Vernunft am Horizont. Tatsächlich müssen wir aber erkennen, dass niemand einen Ausweg weiss. Unser Verstand ist überfordert. Um wenigstens das besser zu verstehen, kann man darauf achten, was an die Stelle der Vernunft tritt. Dabei fällt der hohe Stellenwert von Symbolen und Riten auf.
Gipfeltreffen, Medienkonferenzen, die unersättlich feuernden Kameras – sie alle bilden den Rahmen von Zeremonien, in denen die „führenden“ Politiker die Rolle von Hohen Priestern spielen. Und wie diese verkünden sie die Botschaft, dass am Ende alles gut werde, wenn man ihnen nur vertraue – und den Mächten, die sie auf geheimnisvolle Art repräsentieren.
Später wird man sehen
Es ist absolut logisch, dass sich am anderen Ende Gegenbewegungen bilden, die nach demselben Muster, aber seitenverkehrt gestrickt sind. Dazu gehört die Occupy-Bewegung. In Deutschland hat zudem die Piratenpartei auf Anhieb in Berlin den Einzug in das Abgeordnetenhaus geschafft. Auch in anderen Bundesländern haben die „Piraten“ Umfragewerte, die in keinem Verhältnis zu der Tatsache stehen, dass diese „Partei“ weder über ein einigermassen bekanntes Personal, noch über ein Programm verfügt. Die Piraten sind die Piraten, sind die Piraten, sind die Piraten - und sonst gar nichts.
Die Regierenden und die Protestbewegungen stehen gleichermassen unter der Herrschaft der Ratlosigkeit. Wir leben in einer Zeit, die wohl erst spätere Generationen zu deuten wissen. Das Urteil, das sie sprechen werden, wird dem ähneln, das wir über frühere Epochen mit ihren uns heute nur schwer verständlichen Irrwegen gefällt haben. Das ist kein Trost.