Herr Spillmann, zunächst eine provokative Frage: Sind die Taliban eigentlich so schlimm?
Spillmann: Das hängt vom Betrachter ab. Für Anhänger westlicher Werte - wie „Demokratie“, „Menschenrechte“, „Modernität“ oder „offene Gesellschaft“ - sind sie schlimm. Denn gerade diese Werte lehnen die Taliban ab. Aber aus der Sicht der Paschtunen, also eines grossen Teils der afghanischen Bevölkerung, sind die Taliban ehrenwerte Kämpfer. Sie verteidigen Traditionen und Glauben der Paschtunen. Die Taliban wollen auch die Ehre und Würde der Frauen wieder herstellen. Diese sehen sie durch die eindringenden Westler gefährdet. Wir im Westen empfinden das als Unterdrückung der Frau.
Also: Je nach kulturellem Hintergrund eine komplett unterschiedliche Beurteilung der Taliban.
Die Taliban sind eng mit der Bevölkerung verflochten. Es gibt in Afghanistan kaum eine Familie, in der nicht ein Sohn, Bruder oder Cousin bei den Taliban kämpft. Ist da ein dauerhafter Sieg über die Taliban überhaupt möglich.
Die Taliban vertreten nicht nur einen fundamentalistischen Islam, sondern auch den traditionellen Ehrenkodex der Paschtunen: den Paschtunwali. Sie sehen ihren Kampf als Kampf der Einheimischen gegenüber fremden Eindringlingen. Da die Paschtunen bereit sind, alle Opfer auf sich zu nehmen und selbst bis zum Tod zu kämpfen, sehe ich keine Chancen für einen dauerhaften militärischen Sieg über die Taliban. Vorübergehend sind taktische Erfolge möglich – aber keine strategischen.
Obama sagt in seinem jüngsten Afghanistan-Bericht, es sei gelungen, die Taliban schrittweise zurückzudrängen. Sie stünden im neunten Kriegsjahr unter grösserem Druck als je zuvor. Wird da nicht von Obama, vielleicht wahltaktisch, etwas allzu viel Optimismus verbreitet?
Diese Ansicht teile ich. Obama will es mit den Konservativen und den Militärs nicht verderben - also mit den sogenannt traditionellen Vertretern einer starken amerikanischen Präsenz in der ganzen Welt. Aber er weiss genau, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. Ein Afghane hat einmal gesagt: Gott ist gerecht. Im Sommer ist er auf der Seite von uns, im Winter ist er auf der Seite der Amerikaner. Und so wechselt das. Und das bedeutet: wenn sich die Taliban im Sommer frei bewegen können in diesem grossen und schwer zugänglichen Land, dann ist der Vorteil auf ihrer Seite. Wenn der Winter sie behindert, dann können die amerikanischen Truppen ihre technische Überlegenheit besser ausspielen und sie wirkungsvoller bekämpfen. Im Moment melden die Amerikaner und ihre Verbündeten taktische Erfolge. Im nächsten Sommer wird sich das wieder ändern.
Die neue amerikanische Strategie besteht darin, dass Gebiete, aus denen die Taliban vertrieben wurden, von afghanischen Sicherheitskräften gesichert werden sollen. Doch diese sind oft unfähig und korrupt. Wie kann das gut kommen?
Es wird nicht gut kommen. Die afghanische Armee ist keine verlässliche Armee. Man weiss, dass ein Viertel der afghanischen Truppen schnell desertiert. Die Hälfte der neuen Polizeikräfte wurde positiv auf Drogen getestet. Der Machtbereich von Präsident Karzai ist auf Kabul und einige geschützte Aussenposten beschränkt. Es kann keine Rede davon sein, dass hier ein neuer, moderner Staat entsteht. Ein solcher war ja eigentlich das Ziel der Amerikaner.
Die Taliban verlangen einen Abzug der fremden Truppen. Nur dann seien sie zu Gesprächen bereit. Besteht nicht eine Möglichkeit, die Taliban in einen Befriedungsprozess einzubinden?
Seit einigen Monaten spricht auch das Weisse Haus von „reconciliation“, von Versöhnung. Das heisst: Der Dialog wird gesucht. Ich halte das persönlich für eine Vorbereitung eines gesichtswahrenden Abzuges nach dem Muster von Vietnam. Man erkläre den Sieg, ziehe ab und überlasse dann die weitere Entwicklung den Einheimischen. Eine nachhaltige Kontrolle von aussen ist wegen der Verschmelzung des fundamentalistischen Islam mit paschtunischen Stammestraditionen nicht möglich – Traditionen übrigens, die archaisch und vor-islamisch sind.
Das zu Ende gehende Jahr ist das verlustreichste für die ausländischen Truppen. 60 Prozent der Amerikaner und 70 Prozent der Deutschen sind für einen raschen Truppenabzug. Schlechte Voraussetzungen für ein erfolgreiches Engagement.
Die Stimmung ist schlecht, die Anforderungen sind gewaltig. Die ISAF-Truppen unter Nato-Führung wollten Afghanistan modernisieren und den Lebensstandard der Bevölkerung heben. Das ist ein virtuelles Ziel, das nicht erreicht werden kann.
Die psychische Belastung aller Truppen, die dort stationiert sind, ist enorm. Es gibt viele Selbstmorde. Viele Soldaten haben Mühe, sich nach einer Rückkehr aus dem Krieg wieder in die menschliche Gesellschaft einzugliedern. Die langfristigen psychischen Schäden werden sich auf viele, viele Jahre hinaus bemerkbar machen.
Hat Obama nicht schon längst eine Exit Strategy im Hinterkopf?
In seiner jüngsten Lagebeurteilung redet er zwar nicht offen davon. Unter dem Stichwort „reconciliation“ lässt er jetzt Verhandlungen aufnehmen. Er hat ja angekündigt, dass er im Sommer nächsten Jahres die ersten amerikanischen Truppen abziehen will. Dagegen wehren sich die Hardliner auf der konservativen Seite. Sie sagen, die Ankündigung eines Abzuges sei das Schädlichste, was man machen kann. Sie fordern, dass die amerikanischen Verbände bis zu einem „Sieg“ und mindestens 2014 in Afghanistan bleiben sollen.
Obama will ja 2012 nochmals gewählt werden. Eine offene Niederlage wäre ein Gesichtsverlust für die USA und würde ihm schaden. Das will er vermeiden. Ich denke aber, für ihn ist klar, dass er ab dem nächsten Sommer den Abzug intensivieren wird.
Würde eine Niederlage des Westens in Afghanistan islamistischen Aufständischen in andern Regionen der Welt Auftrieb geben?
Wichtig sind in Afghanistan nationale Interessen, Stammesinteressen, die mit dem fundamentalistischen Islam gekoppelt sind. Die paschtunischen Taliban im Südosten Afghanistans und im Nordwesten Pakistans kämpfen nicht für Al Qaida, sondern für ihre lokale, sehr strenge Form des Islam, den sogenannten Deobandismus. Dabei handelt es sich um eine uralte sunnitische Bewegung und Rechtsschule, die gegen den Einfluss westlicher Kulturen und die Ausbreitung der Schiiten kämpft.
Dass bei einem Abzug von ausländischen Truppen Al Qaida daraus einen Triumph ableiten könnte, ist möglich. Aber das hat mit den Kernproblemen in Afghanistan wenig zu tun. Obama versucht propagandistisch den Afghanistan-Krieg immer noch als Kampf gegen den Terrorismus in seinem Kerngebiet darzustellen und von der Ableitung von 9/11 zu profitieren. Aber mittlerweile hat der Afghanistankrieg eine ganz andere Wende genommen und es geht längst nicht mehr darum, die Ausbildungslager für die Terroristen, die 9/11 verursacht haben, zu zerstören.
Die Taliban sind ja noch immer stark, weil sie in Pakistan ein offenes Rückzugsgebiet haben. Wieso gelingt es den USA nicht endlich die Pakistani zu bewegen, die Taliban aus diesen Rückzugsgebieten zu vertreiben?
Es gibt zwei Hauptgründe: Erstens ist das nordwestliche Pakistan auch von Paschtunen besiedelt. Dort leben also stammesmässige Verwandte. Zweitens hat Pakistan kein Interesse an guten Beziehungen zum afghanischen Präsidenten Karzai und seiner Regierung. Pakistan verdächtigt Karzai, ein Freund der Inder zu sein. Die traditionelle pakistanisch-indische Feindschaft spielt hier eine wichtige Rolle. Karzai ist der Vertreter der zentralasiatischen Stämme in Afghanistan, mit denen die Pakistani nichts am Hut haben. Pakistan unterstützt die Paschtunen also auch, um eine Blockade zu Karzai und damit gegen den Einfluss Indiens in Afghanistan aufzubauen.
Die Qaida-Führung in Pakistan sei so schwach wie seit neun Jahren nicht mehr, heißt es im Afghanistan-Bericht der USA. Ihre dezimierten Spitzen sässen in Pakistan, unter dem Druck unablässiger Angriffe eingebunkert, sagte Obama. Ihre Fähigkeit, Attentate durchzuführen, sei zwar beeinträchtigt, aber nicht unterbunden. Teilen Sie diese Ansicht?
Ja, das ist wahrscheinlich richtig. Aber es ist ja längst bekannt, dass Al Qaida keine zentral geführte Organisation ist. Sie ist sehr lose strukturiert. Die Attentate in Madrid, London und jetzt in Stockholm haben ja gezeigt, dass nicht afghanische oder pakistanische Terroristen am Werk waren. Die Attentäter waren europäische Bürger: Briten zum Beispiel mit pakistanischen Wurzeln. Das waren junge Männer, die sich auf dem Weg zu ihrer Identitätsfindung dem Islamismus zugewandt haben. Zudem gibt es die Bekehrten: Normale Europäer, die sich plötzlich aus innerer Berufung zum Islam bekehren. Sie entwickeln sich dann oft zu den militantesten Vertretern eines fundamentalistischen Islam. Sie wird es in allen europäischen Ländern immer geben, und deshalb besteht auch immer die Gefahr neuer Attentate.
(Das Interview führte Heiner Hug)