Bei der Wahl vor acht Jahren haben Sie gesagt, Obama sei ein Glücksfall für Amerika und die Welt. Sind Sie noch immer dieser Ansicht?
Die USA wären unter den Gegenkandidaten Obamas (2008 John McCain, 2012 Mitt Romney) mit Sicherheit tiefer in den Sumpf der islamischen Kriege geraten, wie deren Stellungnahmen zum syrischen Bürgerkrieg eindeutig zeigen, und ich kann auch nicht glauben, dass ein anderer als Obama die nukleare Abrüstung Irans oder die Normalisierung der Beziehung zu Kuba oder den Klimavertrag von Paris realisiert hätte: Obama hat mit Augenmass und Geduld die amerikanische Aussen- und Sicherheitspolitik von einer konfrontativen zu einer kooperativen Grundeinstellung geführt, und das ist eine grosse Leistung.
Obama musste gegen die Totalopposition der Republikaner regieren. Weshalb boten die nie Hand zu Kompromissen? War das nur eine Trotzreaktion der Wahlverlierer?
Obama war für viele konservative Amerikanerinnen und Amerikaner mit seiner neuen Gesundheitspolitik, die alle Bürgerinnen und Bürger zu minimalem Versicherungsschutz gegen Krankheit verpflichtet, ein linker Revolutionär. Zwar sank dadurch die Zahl der Unversicherten von 46 Millionen auf 29 Millionen, doch der politische Widerstand ging weiter. Was in allen europäischen Ländern längst selbstverständlich ist, wurde in den USA als Einschränkung der Selbstverantwortlichkeit und damit als Einschränkung der persönlichen Freiheit heiss debattiert. Die Front zwischen Obama und seinen Gegnern verlief also zwischen progressiv und konservativ eingestellten Politikern, aber im Untergrund spielte von Anfang an auch ein rassistisches Element eine Rolle:
Viele Bürgerinnen und Bürger, besonders weisse Männer, die durch die Wirtschaftskrise von 2008 und ihre Folgen wie auch durch den Globalisierungsprozess sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sehen, bekämpfen in Obama den Repräsentanten der vorrückenden „Eindringlinge“: der Schwarzen, aber auch der aus Mexiko nach Norden drängenden Latinos, der vom pazifischen Raum her einströmenden Asiaten und anderer Einwanderer. Die gleiche Grundthematik wiederholt sich jetzt in der Auseinandersetzung Hillary Clinton – Donald Trump.
Könnte Hillary Clinton jetzt das Gleiche geschehen? Ein republikanisch dominierter Kongress gegen die Demokratin?
Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird das passieren. Die politischen und weltanschaulichen Fronten zwischen Demokraten (den „Progressiven“) und Republikanern (den „Konservativen“) sind so verhärtet, dass an eine vernünftige Politik kaum mehr zu denken ist. Fakten und Argumente spielen im Wahlkampf kaum mehr eine Rolle, es dominieren die Bauchgefühle und auf der Strecke bleibt die ganz alltägliche politische Arbeit, die Probleme und Bedürfnisse der Gesellschaft bearbeiten, regeln und lösen sollte. So war es seit 2010, als die Republikaner die Mehrheit im Senat gewannen, so wird es weiter sein, wenn nicht ein Erdrutschsieg der Demokraten ihnen auch die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses bringt.
In den letzten Monaten findet eine eigentliche Hatz gegen Obama statt. Er wird für alles Übel verantwortlich gemacht, auch für die Kriege im Nahen Osten. Weshalb?
Die tiefe ideologische Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern überschattet alles, auch die Aussenpolitik, dazu kommt vor allem in den Südstaaten immer auch dieses unterschwellig rassistische Element. Für die Kriege im Nahen Osten muss man aber mit guten Gründen das Führungsteam um George W. Bush – die Herren Wolfowitz, Cheney und Rumsfeld – und den Entscheid für die Invasion im Irak (2003) verantwortlich machen, nicht Obama. Obama übernahm damit ein schwieriges Erbe und versuchte, in allen Kriegen des Nahen Ostens die amerikanische Beteiligung zu begrenzen oder zu beenden. Im „Arabischen Frühling“ liess er sich nicht auf eine Rettungsaktion für den „Verbündeten“ Mubarak in Ägypten ein, und im Falle von Libyen widerstand er dem massiven Druck von Frankreich und England (und auch von eigenen Mitarbeitern, so Aussenministerin Hillary Clinton), sich militärisch mit Bodentruppen am Kampf gegen Gaddafi zu beteiligen.
Seine indirekte Beteiligung an den Militäraktionen der Franzosen und Engländer blieb auf nachrichtendienstliche und logistische Unterstützung beschränkt. Als für ihn immer offensichtlicher wurde, dass kein Eingreifen von aussen die uralten religiösen und Stammesfehden wirklich überwinden konnte, vollzog er im Falle des syrischen Bürgerkrieges schliesslich ganz offiziell den Bruch mit der interventionistischen amerikanischen Tradition: trotz einer vorher deklarierten „roten Linie“, die Assad beim Gebrauch von Giftgas überschreiten würde, griff Obama nicht mit Bodentruppen in Syrien ein, sondern zog eine vertragliche Lösung über die Vernichtung aller Chemiewaffen vor, was ihm von den Falken in der ganzen Welt als Weichheit übelgenommen wurde.
Spielt bei der Kritik an Obama nicht auch ein Anti-Amerikanismus eine Rolle, der in jüngster Zeit weltweit wieder stärker geworden ist?
Die europäische Haltung gegenüber den USA ist seit jeher geprägt durch Bewunderung für die Grösse und Stärke dieses Landes und durch Abneigung gegenüber einer vermeintlichen Vulgarität und Kulturlosigkeit. Die beiden Weltkriege, die eigentlich europäische Bruderkriege waren, wurden beide durch das Eingreifen der USA entschieden.
Die Reaktionen in den verschiedenen europäischen Ländern gegenüber dieser siegreichen amerikanischen Macht waren so verschieden wie die politischen Einstellungen in den verschiedenen europäischen Ländern selbst: von Dankbarkeit und Bewunderung bis zu tiefer Abneigung kam alles vor, und als der Kalte Krieg dann Europa spaltete, war Westeuropa logischerweise amerikafreundlich, Osteuropa amerikafeindlich. Und in den europäischen Ländern selbst waren die sogenannten „Linken“ eher amerikakritisch, die „Rechten“ oder „Konservativen“ eher amerikafreundlich. Und da die USA mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums an Macht und Einfluss weiter zugelegt haben, hat auch der Neid und die Abneigung gegenüber dieser Macht eine Tendenz, sich immer wieder neu zu äussern. Zudem boten und bieten sich viele Möglichkeiten an, sich mit „Opfern“ amerikanischer Interventionen in Lateinamerika, in Asien oder eben im Nahen Osten zu solidarisieren.
Obama hat aber auch viele seiner treuen Anhänger enttäuscht. So hat er zum Beispiel, wie versprochen, Guantanamo nicht geschlossen.
Am zweiten Tag nach Amtsantritt erteilte Obama die Weisung, Guantanamo zu schliessen und die sogenannten „harten Foltermethoden“ nicht mehr anzuwenden. Doch der Fundamentalwiderstand im Kongress hat unter verschiedensten Vorwänden diese Schliessung bisher immer verhindert: Neben der Verweigerung der finanziellen Mittel zur Auflösung des Lagers war der Einwand am wichtigsten, dass man für die noch verbliebenen Häftlinge keine sichere Bleibe finden könne, da sie in den eigenen Ländern verfolgt würden und sich sonst keine Orte finden würden, die bereit wären, diese Gefangenen zu übernehmen.
Die Republikaner setzten noch 2009 ein eigenes Gesetz durch, den „Keep Terrorist out of America Act“. Darin wird „aus Sicherheitsgründen“ verboten, dass ehemalige Guantanamo-Häftlinge auf amerikanischem Boden inhaftiert werden oder gar Asyl erhalten könnten. Es ist also einmal mehr die republikanische Obstruktionspolitik, die verhindert, dass die von den ursprünglich 779 jetzt noch verbliebenen 60 Gefangenen entlassen werden. (Liste unter: http://www.closeguantanamo.org/Prisoners)
Obama erklärte, er wolle keine neuen Kriege beginnen und sich aus dem Irak und Afghanistan zurückziehen. Jetzt sind aber amerikanische Einheiten sehr wohl in Syrien, im Irak, in Jemen und Libyen im Einsatz.
Obama ist nach wie vor dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus verpflichtet. Unter Obama ist auch Osama bin Laden aufgespürt und getötet worden, unter ihm sind durch Kleinaktionen mit Drohnen viele Terroristenführer ausgeschaltet und so der weltweite Kampf gegen den Terrorismus fortgesetzt worden. In diesem Zusammenhang schickt er Militärberater und Special Forces in den Irak, nach Jemen, Libyen und Syrien, dort, wo wichtige strategische Interessen der USA auf dem Spiel stehen und wo amerikanisches Wissen und Können oder amerikanisches Material auf der Seite lokaler Kämpfer einen bedeutenden Unterschied ausmachen könnten. Doch er will keinen weiteren Krieg und deshalb keine weiteren amerikanischen Verbände (also grössere Truppenbestände) neu in diesen Kämpfen engagieren.
Ihm wird vorgeworfen, dass er in Libyen und Syrien auf den Sturz der Machthaber hingearbeitet habe, aber keinen Plan hatte, was nachher geschieht. Deshalb sei er verantwortlich für das Desaster und letztlich auch für die Flüchtlingswelle.
Das ist eine unsinnige Verantwortungszuschreibung. Der „Arabische Frühling“ hat die ganze arabisch-muslimische Welt wie ein Sturmwind ergriffen und die Diktatoren vom Thron gefegt, ohne die Hilfe der USA. Im Falle Syriens ist die grosse Tragödie dadurch entstanden, dass verschiedenste Drittstaaten die unterschiedlichsten Bürgerkriegsparteien (und davon gibt es eine dreistellige Anzahl) unterstützt haben und weiter unterstützen, allen internationalen Friedensbemühungen zum Trotz. Dadurch kämpfen alle Gruppen weiter in der Hoffnung, doch noch als „Sieger“ irgendeinen Vorteil erringen zu können. Das unsägliche menschliche Elend, das weiter täglich zunimmt, scheint im Machtpoker der Drittstaaten unwichtig.
Russland kann sich in dieser Weltecke durch die Unterstützung Assads weit über Gebühr und militärisches Vermögen aufplustern; auch Iran, die Hizbollah, Nord-Korea, Weissrussland und in geringem Umfang die Regierungen des Irak, Libanons, Algeriens unterstützen Assad. Auf der andern Seite stellen sich die USA, Grossbritannien, Frankreich, die Türkei, die Länder der Arabischen Liga und verschiedenste weitere Gruppierungen gegen Assad und unterstützen die oppositionellen Gruppen, die aber über keinen gemeinsamen Nenner verfügen. Die Vielfalt der kämpfenden Gruppierungen ist zu gross (und verändert sich auch laufend), als dass klare Fronten erkennbar wären. Die Uno ist zu zerrissen, als dass ein gemeinsames Vorgehen aller Grossmächte auch nur diskutiert würde. Entscheidend wäre, dass sich die Mächte des Uno Sicherheitsrates endlich wieder einmal auf ihre ganzheitliche Verantwortung besinnen und ein gemeinsames Vorgehen beschliessen würden. Nur schon die Unterlassung der Unterstützung einzelner Parteien und die Unterbindung der Waffenlieferungen durch benachbarte Glaubens- oder Stammesbrüder könnte Wunder wirken.
Als eines seiner Glanzstücke wertet seine Regierung „Obamacare“, das Krankenversicherungssystem. Jetzt hat aber sogar Bill Clinton gesagt, es sei „verrückt“, weil Kleinunternehmer, die knapp zu viel verdienten und über der Zuschussgrenze liegen, jetzt mehr bezahlen als früher.
Das amerikanische Krankenversicherungswesen ist ein Urwald von Gesetzen und Paragraphen, die nochmals von Staat zu Staat variieren. Tatsache ist, dass eine europäische Selbstverständlichkeit wie die allgemeine obligatorische Krankengrundversicherung in den USA bereits als unzulässige Einmischung des Staates in die Freiheiten des Individuums betrachtet wird. Und darum ging es im wesentlichen: Obama wollte jene gegen 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus prekären Einkommensschichten, die über keinerlei Schutz bei Krankheit verfügten, einer obligatorischen Versicherung unterstellen. Das ist insofern auch gelungen, als heute nur noch 13 % der amerikanischen Bevölkerung nicht versichert sind, gegenüber einem Anfangstand von 20 % (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 320 Millionen sind damit weitere rund 20 Millionen Menschen versichert).
Das gesamte Gesetz ist durch die vielen politischen und bürokratischen Kämpfe mit so vielen Zusätzen beschwert worden, dass es heute weit über 1000 Seiten umfasst. Es ist klar, dass damit auch Seltsamkeiten und unlogische Besonderheiten darin enthalten sind, deren Ausebnung noch Jahre dauern wird. Trump will das Gesetz als Ganzes ausheben, Hillary Clinton beabsichtigt, die Prämien auf 8,5 % des Einkommens zu deckeln und vor allem den Kampf mit den Pharmafirmen aufzunehmen, um das weitere Ansteigen der Preise für Medikamente zu verhindern.
Ist die überraschend starke Begeisterung eines grossen Teils der Bevölkerung für Trump nicht auch Ausdruck für ein Versagen des Washingtoner Establishments, und damit auch von Obama?
Trump spricht jene Bevölkerungskreise an, die sich als In-ihrer- Existenz-Bedrohte, Zu-kurz-Gekommene oder anderweitig Benachteiligte empfinden, die aber über zu geringe Bildungsgrundlagen verfügen, um in der Dienstleistungsgesellschaft mit ihren anderen Ansprüchen neu Fuss fassen zu können. Sie sehen in den Minoritäten und in den Einwandernden Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze und wollen ihre Privilegien durch Abschottung erhalten. Solche Ängste um Arbeitsplätze werden von Trump erfolgreich angesprochen und ausgenützt: die berühmte „Mauer gegen Mexiko“ ist nur das äussere Symbol dafür: alles Üble, Bedrohliche soll „draussen“ blockiert bleiben.
Dass solche Vorschläge völlig unrealistisch sind, spielt im Wahlkampf keine Rolle. Es dominiert das Gefühl „dieser Mann versteht unsere Sorgen und wird Abhilfe schaffen“. Zur grossen Gruppe der Trump-Unterstützer aus Frustration gehört auch die Mehrheit der rund 20 Millionen Kriegsveteranen, die sich missverstanden und vernachlässigt vorkommen. Lange, oft monatelange, Wartefristen in Spitälern und bei Ärzten schüren das Gefühl, von Regierung und Politik betrogen worden zu sein. Täglich bringen sich in den USA 22 zurückgekehrte Soldaten aus Verzweiflung über ihre Lebenssituation um. Trump spricht die Frustration aller vom Schicksal Vernachlässigten aus, wenn er die Politiker Lügner und Betrüger nennt.
Dass er selber ausser Schlagwörtern nichts anzubieten hat, schon gar keinen Plan, wie man die Situation nachhaltig verbessern könnte, ficht weder ihn noch seine gläubigen Anhänger an. Wollte man seine aussen- und sicherheitspolitischen Ankündigungen ernst nehmen, dann stünde eine Kurskorrektur der härtesten Sorte bevor: Konfrontationen mit Nord-Korea, mit China, mit den Nato-Mitgliedstaaten (die gefälligst selbst für ihre Sicherheit bezahlen sollen), mit Iran und vielen weiteren Staaten.
Welches ist das Vermächtnis von Obama? Sie sind Historiker. Welchen Stellenwert könnte er einst in der Geschichte haben?
Obama wird in die Geschichte eingehen nicht nur als der erste Schwarze, der den Aufstieg ins höchste Amt des Landes geschafft hat, sondern auch als derjenige, der Amerika davor bewahrt hat, sich in Selbstüberschätzung in weitere Nahostkriege zu stürzen, der den wirtschaftlichen Kollaps nach der Krise von 2007/8 durch rechtzeitige Hilfspakete verhindert hat, der die verhärteten Konflikte mit Iran und Kuba aufweichen konnte, der – endlich – die Mitwirkung der USA in der internationalen Kooperation gegen die Klimazerstörung zusagte und der es fertig brachte, die Hybris der amerikanischen Superpower-Arroganz wieder auf ein realistisches Mass und auf eine verantwortungsvolle Rolle in der Weltpolitik zurückzunehmen.
Die Würde, die Obama ausstrahlte, seine absolute persönliche Integrität, seine Gesprächsbereitschaft und sein Humor selbst in einem Klima ständiger politischer und rassistischer Anfeindungen, werden die Erinnerung an ihn als vorbildlichen Präsidenten lebendig bleiben lassen.
(Die Fragen stellte Heiner Hug)