„Britannien gewinnt Schlacht um die Diego García Zwangsräumungen“, titelte Agence France-Presse, wobei die Frage erlaubt sein muss, was AFP unter „Schlacht“ versteht. Es war eher der Riese, der die lästige Fliege mit dem Daumen zerquetschte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies die Klage von 1786 ehemaligen Bewohnern von Diego García, einem Eiland im Indischen Ozean, gegen ihre Zwangsumsiedlung zurück. Sie hätten die Kompensation, die ihnen in den achtziger Jahren von der britischen Regierung angeboten worden war, akzeptiert. Damit aber hätten sie das Recht auf ein Urteil über die Rechtmässigkeit ihrer Vertreibung verwirkt, erklärte sich das Gericht für nicht zuständig. „Wir begrüssen dieses Ende der juristischen Auseinandersetzung, die sich so viele Jahre hingezogen hat“, liess das Aussenministerium in London verlauten und drückte sein Bedauern aus über „das Unrecht, das den Chagossen vor über vierzig Jahren angetan wurde. Nichtsdestotrotz war es das Recht der Regierung, sich gegen diese Aktion zu verteidigen.“
So werden die meisten von ihnen weiterhin 2000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in den herunter gekommenen Vierteln von Port Louis auf Mauritius oder in Victoria, der Hauptstadt der Seychellen, leben. Ein Volk ohne Land. Bis zu Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten sie friedlich auf den Chagos-Inseln im Indischen Ozean vom Fischfang, Gemüseanbau und Kokosnussplantagen gelebt. Doch Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre hatten sie den Erfordernissen der modernen Kriegführung weichen müssen und waren zwangsumgesiedelt worden. Jahrelang hatten sie sich dagegen gewehrt und versucht, die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimat einzuklagen.
Menschen sind hinderlich
Seit dem Ende der napoleonischen Kriege, 1814, waren die winzigen Inseln Diego García, Three Brothers, Eagle Islands, Danger Island, Egmont Island, the Salomon Islands und Peros Banhos, die den Chagos-Archipel bilden, eine britische Kolonie, die von Mauritius aus verwaltet wurde. 1960 verlangten die Vereinten Nationen die Dekolonisierung auch der noch verbliebenen britischen, französischen oder portugiesischen Besitztümer in Afrika oder Asien. Also gab Grossbritannien zu Beginn der sechziger Jahre seine militärische Präsenz im Indischen Ozean auf.
Dafür drängten die USA in die Region, sie suchten ein geeignetes Gelände, auf dem sie eine Kommunikationsbasis für ihre Marine aufbauen wollten. Gewünscht war eine unbewohnte Insel, die dem Vereinigten Königreich (UK) gehörte, und somit nicht zu Problemen mit gerade erst unabhängig gewordenen Staaten führen konnte. Die erste Wahl, Aldabra bei Madagaskar, wurde verworfen, weil dort eine seltene Art von Riesenschildkröten lebte. Ersatzweise verfielen Washington und London auf Diego García, wo nur „ein paar Tarzans oder Freitags obskurer Herkunft“ lebten, wie ein britischer Diplomat schrieb. In einem Geheimabkommen kamen Grossbritanniens Ministerpräsident Harold McMillan und US-Präsident John F. Kennedy 1961 überein, die Hauptinsel des Archipels, Diego Garcia, zu einer gemeinsamen strategischen Nachschubbasis auszubauen.
Lügen und Betrug
Das internationale Recht verlangte jedoch, dass einem kolonialen Territoriums in seiner Gesamtheit die Unabhängigkeit gewährt werden müsse. Zudem beschreibt Artikel 7 der Statuten des Internationalen Gerichtshofs die „Deportation oder den gewaltsamen Transfer einer Bevölkerung“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Um die Bedingungen der lästigen Gesetze zu erfüllen und den Chagos-Archipel, der demzufolge als Teil von Mauritius unabhängig geworden wäre, zu behalten und an die USA vermieten zu können, belog London die Vereinten Nationen einfach. Die mit der heiklen Angelegenheit befassten amerikanischen und britischen Beamten verfielen auf einen „orwellschen“ Kniff, wie David Vine in seinem Buch „Island of Shame: The Secret History of the US Military Base on Diego García“ schrieb. Sie behaupteten einfach, bei den Inselbewohnern handele es sich nicht um eine permanente Bevölkerung mit kulturellen Wurzeln und Traditionen, sondern um „Wanderarbeiter“, auf die keine der Schutzmassnahmen der Vereinten Nationen zuträfe. Das war reine „Erfindung“.
Grossbritannien bezahlte der damals sich selbst regierenden britischen Kolonie Mauritius im November 1965 für den Chagos-Archipel einfach drei Millionen Pfund und schuf das British Indian Ocean Territory (BIOT). Am 30. Dezember 1966 kamen Washington und London zu einer Übereinkunft, die den USA auf 50 Jahre (bis Dezember 2016) die Nutzung des Territoriums (BIOT) für Verteidigungszwecke erlaubte, die um weitere 20 Jahre verlängert werden konnte. Es war ein Schnäppchen. Im Austausch für ein Paradies gewährten die USA Grossbritannien beim Erwerb des ballistischen Raketensystems Polaris, mit dem die britische U-Boot-Flotte aufgerüstet werden sollte, einen Preisnachlass von 14 Millionen Dollar.
Der Beginn des Rechtsstreits
Die Chagos-Insulaner wurden auf die Nachbarstaaten Mauritius und Seychellen verfrachtet, wo die meisten von ihnen in Slums, Drogen und Alkohol dahinvegetieren, während Haliburton ihre Heimat in eine hochtechnisierte Festung verwandelte mit dem schönen Namen „Camp Justice“, mit Einrichtungen für 2000 Soldaten, Ankerplätzen, Tiefwasser-Landungsbrücken, Hafeninstallationen für die grössten Schlachtschiffe der USA und des UK, einem Flughafen mit zwei parallelen 3660 Meter langen Start- und Landebahnen, Hangars und Treibstofftanks sowie Einkaufszentren, Bars, einem 18-Loch-Golfkurs und seit Beginn des Kriegs gegen den Terrorismus einem so geheimen Gefangenenlager, dass weder die Zahl der Häftlinge noch ihre Namen oder Nationalitäten bekannt sind. Von hier starten die B-1, B-2, B-52 Bomber für ihre Einsätze in Afghanistan, Irak oder Somalia.
Im November 2000 urteilte der Londoner High Court, die Umsiedlung der Chagossen sei “illegal” gewesen, und gestand ihnen das Recht auf Rückkehr zu. Vier Jahre später erklärte die Regierung in London unter Umgehung des Parlaments die Entscheidung des Gerichts für ungültig, indem sie eine Exekutivanweisung erliess, die den Insulanern einfach das Recht auf einen festen Wohnsitz absprach. Im Oktober 2008 bestätigte das House of Lords, Grossbritanniens oberstes Gericht, mit drei gegen zwei Stimmen diese Entscheidung.
Recht versus Umweltschutz
Ein amerikanischer Militärexperte stellte klar, wie aussichtslos die Forderung der Insulaner, zurückkehren zu dürfen, tatsächlich ist: „Selbst wenn uns die östliche Hemisphäre aus jedem Militärstützpunkt in dem Gebiet rausgeworfen hat, werden wir den Planeten von Guam und Diego García aus kontrollieren.“ Und London tut alles, um Washington zu Gefallen zu sein und eine Rückkehr der Chagossen unmöglich zu machen. Die Einrichtung eines Naturschutzparks im Chagos-Archipel sei auf lange Sicht wohl die effektivste und sicherste Art, die Wiederansiedlung der ehemaligen Inselbewohner in BIOT zu verhindern, hatte der für die Überseegebiete zuständige Direktor im Aussen- und Commonwealthministerium, Colin Roberts, seinen amerikanischen Gesprächspartnern versprochen, wie aus Kabeln der US-Botschaft in London hervorgeht, die Wikileaks Anfang 2011 veröffentlichte. Zudem sei „die Lobby der Umweltschützer viel einflussreicher als die Anwälte der Chagossen“.
Am 1. April 2010 erklärte die britische Regierung den Chagos-Archipel zu einem maritimen Naturschutzpark und verbot zukünftig jede Form von Rohstoffindustrie einschliesslich Fischerei, Öl- und Gasbohrungen. Diese Massnahmen hätten „keinerlei Auswirkungen“ auf das Recht amerikanischer oder britischer Schiffe, dort zu ankern, Übungen durchzuführen oder BIOT für andere Verteidigungszwecke zu nutzen.
Taucher und Segler willkommen!
Schon im März 2009 hatte das Europäische Gericht für Menschenrechte (ECHR) der Regierung in London mit der Bitte um Antwort eine Klage vorgelegt, die bei ihm eingegangen war. BIOT falle nicht unter die Zuständigkeit des Gerichts, argumentierte die Regierung Ihrer Majestät.
Die Chagossen wollen gar nicht, dass der Stützpunkt auf Diego García aufgegeben wird; im Gegenteil, sie würden sich freuen, wenn sie die Gelegenheit bekämen, dort zu arbeiten, sagen sie. Sie könnten ja auf den zwei Dritteln von Diego García siedeln, die bis heute nicht von den US-Truppen genutzt würden. Wenn dies absolut nicht gehe, würden sie auch die Ansiedlung auf einer der anderen Inseln des Archipels, akzeptieren. Und die Three Brothers, Eagle Islands, Salomon Islands oder Peros Banhos liegen immerhin rund 135 Meilen von den Kämpfern für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte entfernt. Die US-Militärs haben offenbar kein Problem, die Insel mit anderen Zivilisten zu teilen. Hochseejachten machen regelmässig auf Diego García fest, Scubataucher erfreuen sich an der Unterwasserfauna und –flora, und veranstalten abends am Strand vor den verlassenen Häusern der Chagossen Grillparties.
Doch noch Hoffnung?
Doch noch können die Chagos hoffen. Schon vor Verkündung der Entscheidung des europäischen Gerichts waren die Regierungen von Mauritius, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten in Verhandlungen über die Zukunft dieses „Dreh- und Angelpunkts zwischen Europa und dem Atlantik und Asien und dem Pazifik“, zu dem ihn das Pentagon erklärt hat, getreten.
Mitte letzten Jahres diskutierten Grossbritanniens Premierminister David Cameron und sein Amtskollege aus Mauritius, Navin Ramgoolam, „eine der schäbigsten und moralisch unhaltbarsten“ Episoden unserer Nachkolonialgeschichte, wie sich der ehemalige Aussenminister Robin Cook im Guardian ausdrückte. Der Chagos-Archipel sollte seinem rechtmässigen Eigner, also Mauritius, zurückgegeben werden, erklärte Ramgoolam, der die Gespräche als „sehr herzlich“ beschrieb. Laut Guardian versicherte Ramgoolam, er wolle den Stützpunkt keineswegs schliessen, die USA könnten ihn auch unter der Hoheit von Mauritius nutzen.
Das amerikanische Militär sei „das flexibelste und wendigste der Welt“, behauptete ein Pentagon-Sprecher gelassen. „Wir sind beweglich genug, uns auf jedes Szenario einstellen zu können, zumal wir im asiatisch-pazifischen Raum (zwischen den Stützpunkten) rotieren. Natürlich ist es allemal besser, mehr als weniger Optionen zu haben.“