Wenn ein Mann im Rheinland Südhessisch „babbelt“, dann fällt er zwangsläufig auf. Und aus seiner Herkunft hat Norbert Blüm nie ein Hehl gemacht. 1935 als Arbeitersohn im Frankfurt nahen Rüsselsheim geboren, machte er – er war ja schliesslich „nur“ Volksschüler – zunächst eine Lehre als Werkzeugmacher „beim Opel“.
Dies gleich zu Beginn zu erwähnen, ist wichtig. Denn die Erfahrung mit Feile, Werkbank und am Fliessband, der Maloche mit Schichtdienst, die Bedeutung von Gewerkschaft und Arbeiterstolz – das alles hat „Nobbie“ sein ganzes Leben lang nie vergessen. Auch und besonders nicht, als der mittlerweile längst promovierte „Herr Doktor Blüm“ in Bonn die politische Karriereleiter bis hinauf zum Bundesminister erklommen hatte.
Jetzt ist er, im Alter von 84 Jahren, in Bonn gestorben. Eine Erlösung? Seit vorigem Jahr war Norbert Blüm in der Folge einer Blutvergiftung von der Schulter an abwärts gelähmt. Nur der Kopf „funktionierte“ noch. Er plante sogar noch ein weiteres Buch, wobei er den Text diktieren wollte.
„Ohne Streit wäre ich tot“
Norbert Blüm war nur 1,64 Meter lang, aber er war dennoch ein grosser Mann. Viele Nachrufe auf ihn, vielleicht die meisten sogar, konzentrieren seine politische Leistung auf den Inhalt jenes Satzes, der ihm noch nach Jahrzehnten anhing wie eine Klette: „Die Rente ist sicher“. Der echte Slogan auf dem Plakat, das er – fotogerecht in einen grauen Kittel gekleidet – 1986 als Bundesarbeitsminister an eine Litfasssäule auf dem Bonner Marktplatz applizierte, lautete: „Eines ist sicher: die Rente“.
Blüm verteidigte diese Aussage verbissen die ganzen Jahre über, obwohl er zeitweilig mit Hohn und Spott überschüttet wurde, weil nach der deutschen Wiedervereinigung durch die Finanzierung der Ost-Renten das ganze System ins Wanken geriet. Der kleine, aber kernige Blüm stellte sich mehr als nur einmal auf die Foren der Republik – breitbeinig, resolut, kampfesbereit. Und entschlossen, keine Auseinandersetzung mit einer argumentativen Niederlage zu beenden. Streit um der als richtig erachteten Sache willen, das war das Lebenselixier. „Stellen Sie sich einmal vor, ich hätte keinen Streit mehr. Dann wäre ich tot.“
In Norbert Blüms Leben, politisch wie privat, haben etliche Menschen herausragende Rollen gespielt. Im persönlichen Bereich war es natürlich seine Frau Marita, die er während seines Studiums in Bonn kennengelernt hatte. Vorausgegangen war das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. In der Uni der damaligen Bundeshauptstadt widmete er sich der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theologie. Letzteres bei einem gewissen Joseph Ratzinger, der später als Papst Benedikt XVI. Geschichte machen sollte.
In seiner Kindheit war der katholische Norbert im protestantischen Südhessen Messdiener und machte bei den Pfadfindern St. Georg mit. Wobei die Karriere als Ministrant freilich abrupt endete, als er (nach einer Stichflamme während der Messe) gestehen musste, statt der dafür vorgesehenen wohlriechenden Kräuter einmal Schiesspulver in den Weihrauchkessel geschmuggelt zu haben. Ungeachtet dessen war aber die religiös bestimmte Erziehung ein nicht unwesentlicher Grund dafür, dass der junge Blüm schon sehr frühzeitig der CDU beitrat.
Gewerkschaft und Herz-Jesu-Sozialismus
Wer Norbert Blüm kannte, der weiss, dass dieser Mann in einem festen Glauben lebte. Aber es war nicht der prachtvolle, barocke Katholizismus, der ihn bewegte; oder jener der mächtigen Dome und betäubenden Zeremonien. Auch hier hatten die Lehrjahre „beim Opel“ ihre Spuren hinterlassen. In den Rüsselsheimer Montagehallen wurde der Christdemokrat Mitglied der schon damals einflussreichen und – vor allem – ziemlich links orientierten Industriegewerkschaft Metall.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss allerdings gesagt werden, dass bis noch vor gar nicht so langer Zeit in jenen Betrieben (bei VW, BMW und Mercedes war es nicht anders) ohne Gewerkschaftsbeitritt überhaupt keine Chance auf irgendeinen Job bestanden hatte. Blüm blieb sein Leben lang IG-Metall-Mitglied, obwohl ihn die einst mächtigste deutsche Einzelgewerkschaft mehr als einmal lieber ausgeschwitzt hätte.
Denn, anders als die auf straffe und möglichst zentralistische Wirtschafts- und Sozialsteuerung bedachten Funktionäre es anstrebten, war der streitbare Hesse immer ein überzeugter Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft und der Christlichen Soziallehre, wonach zunächst einmal jeder Mensch – so gut er es halt eben kann – für sich selbst und sein Fortkommen verantwortlich sei. Danach, freilich, habe die Solidarität der Gemeinschaft tätig zu werden.
„Herz-Jesu-Sozialist“ haben sie ihn oft genannt, die einen freundlich und wertschätzend, die anderen abwertend und nicht selten polemisch. So war es denn auch kein Zufall, dass Blüm in den Reihen des eigentlichen politischen Gegners (also der Sozialdemokraten) oft genug ziemlich ähnlich viele Zustimmer hatte wie auf der anderen Seite Kritiker unter den eigenen CDU/CSU-Kollegen.
Einen Verwandten im Geiste besass „Bruder Norbert“ über viele Jahre in Heiner Geissler, dem 2017 verstorbenen Langzeit-Generalsekretär der CDU. Die zwei verband, im Übrigen, sehr viel mehr als nur das soziale Gewissen. Beide waren während etlicher Dezennien enge Weggefährten von Helmut Kohl. Mehr noch – sie waren dicke Freunde, hatten dem Langzeit-Bundeskanzler allerdings auch viel Förderung zu verdanken.
Und doch zerbrach dieses für den Zusammenhalt der Christdemokraten im Innern und deren Ausstrahlung als konservativ-soziale-liberale Volkspartei nach aussen so wichtige Männer-Trio. Alle drei hatten – und zwar jeder für sich – nachvollziehbare Gründe für das Zerwürfnis. Aber nur einer liess erkennen, wie sehr er darunter litt – Norbert Blüm. Man dürfe doch, sagte er mehr als einmal, Zorn und Gnadenlosigkeit nicht mit ins Grab nehmen. Doch seine Bitten um Versöhnung blieben von Kohl unbeantwortet.
Der treue Knappe
Helmut Kohl, der Mann aus der Pfalz, war ohne Frage die wichtigste politische Bezugsperson für den gelernten Werkzeugmacher aus dem Süden von Hessen. Blüm hatte zuvor in Hans Katzer, einem aus Köln stammenden und ebenfalls aus dem politischen Katholizismus kommenden CDU-Politiker, einen wichtigen Lehrmeister. Katzer war als Bundestagsabgeordneter und Bundesarbeitsminister in der Grossen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt zugleich auch Vorsitzender der CDU/CSU-Sozialausschüsse (CDA) – das war (und ist im Prinzip noch immer) der logischerweise mehr nach links tendierende Arbeitnehmerflügel der ansonsten eher wirtschaftsfreundlich „gestrickten“ Union. In beiden Ämtern beerbte der junge Aufstreber den Ziehvater.
Im Oktober 1982 – die CDU/CSU hatte mithilfe der FDP den sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt über ein Konstruktives Misstrauensvotum gestürzt – wurde Norbert Blüm vom neuen Regierungschef Helmut Kohl als Arbeits- und Sozialminister ins Kabinett berufen. Und blieb das, als treuer Knappe seines Freundes und Förderers, über die ganzen 16 Jahre der Kohl’schen Regentschaft. Dass er zuvor für eine kurze Zeit (1981/82) beim damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin namens Richard von Weizsäcker als Senator für Bundesangelegenheiten vielleicht so etwas wie einen Probelauf für späteres Regieren absolvierte, ist dabei allenfalls eine Fussnote in der Lebensgeschichte dieses hessischen Rheinländers.
Ohne Zweifel gehörte Norbert Blüm zu den wichtigsten Mitarbeitern seines Kanzlers. Dass er gegen Ende oft ausgebrannt wirkte, ist auf jenem Stuhl wahrhaftig kein Wunder. Bei der allgemeinen Konzentration auf den Blüm-Spruch mit der Rente ging (und geht) noch immer eine weitere Grosstat des kleinen Mannes unter: die 1995 gegen heftigste Widerstände durchgesetzte Einführung einer allgemeinen Pflegeversicherung mit widerstrebender Beteiligung der Arbeitgeber. Und unter – ebenfalls unfreiwilliger – Beteiligung der Evangelischen Kirche. Denn der wurde, zur Finanzierung der Pflegeversicherung, der Buss- und Bettag als Feiertag gestrichen…
Zuständig für das Unrecht auf der Welt
Norbert Blüm war nicht nur Fachpolitiker oder gärende Hefe in dem trägen Gebilde Volkspartei. Er war ein Tausendsassa einerseits und gleichzeitig ein Unikat auf der anderen Seite. Das Elend in der Welt konnte und wollte er nicht übersehen. Irgendwie fühlte er sich immer auch zuständig für die Ungerechtigkeiten überall.
Mit seinem Freund Geissler reiste er in die Nuba-Berge, um Aufmerksamkeit für den im Sudan tobenden, schrecklichen Bürgerkrieg zu wecken. Er besuchte den Irak, übernachtete (allerdings medial begleitet) in Flüchtlingscamps auf griechischen Inseln. Und daheim in Deutschland legte er sich mit hohen und höchsten Gerichten an, weil er deren Urteile im Sinne des gesunden Menschenverstands nicht nachzuvollziehen vemochte.
Immer mit dem Namen Blüm verbunden bleiben wird freilich eine Begebenheit viele tausend Kilometer von der Heimat entfernt. 1987 war er nach Chile gereist, um die kurz zuvor endgültig als Folterzentrum des Geheimdienstes von Diktator Pinochet enttarnte Colonia-Dignidad-Siedlung des deutschen Sektenführers Paul Schäfer persönlich in Augenschein zu nehmen. Der Zutritt darein wurde ihm verwehrt.
Zu Aller Überraschung empfing ihn jedoch der 1973 mit einem Militärputsch an die Macht gekommene General. Immerhin verfügte die chilenische Führung seinerzeit über ziemlich gute Drähte zu Teilen der CDU/CSU (allen voran CSU-Chef Franz-Josef Strauss) und ins Bonner Auswärtige Amt. Doch Norbert Blüms erster Satz lautete: „Herr Präsident, Sie sind ein Folterknecht!“ Pinochet indessen brach daraufhin das Gespräch keineswegs ab, sondern gab dem Besucher aus Deutschland stattdessen eine Liste mit den Namen von 16 Todeskandidaten zu lesen. Wenn Deutschland denen Asyl gewähren wolle, sagte er, dann verzichte er auf die Hinrichtung.
Zorn über den „Giftzwerg“
Tatsächlich gab es für Blüm keinerlei Garantie, dass er dies schaffen würde. Eher im Gegenteil. Besonders bei den christsozialen Parteifreunden in Bayern tobte die Entrüstung über den Giftzwerg und Möchtegern-Weltverbessserer, der drauf und dran sei, ein unterschriftsreifes Millionengeschäft für die Lieferung von Lkws zu vermasseln. Mehr noch: In einer Sondersitzung des Bundestages trickste die Fraktionsführung der Union den unliebsamen eigenen Mann bei der Aufstellung der Rednerliste aus. Leider, teilte man ihm mit, könne er nicht ans Rednerpult, um seine Vorgehens- und Handlungsweise gegenüber Pinochet zu begründen.
Da sprangen – Solidarität von unerwarteter Seite – die Grünen ein und schenkten Norbert Blüm fünf Minuten ihrer eigenen Redezeit. Und diese 300 Sekunden reichten. Nach Blüms emotionaler Rede ging der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) mit den Worten auf ihn zu: „Ich mache das, ich nehme es auf meine Kappe und gebe den 16 Menschen Asyl.“
Die gute Tat hatte ein gutes Nachspiel: Als Norbert Blüm viele Jahre später einmal seine in Santiago als Lehrerin arbeitende Tochter besuchte, fiel ihm in einer Markthalle ein fremder Mann um den Hals: „Sie sind doch Herr Blüm. Ich bin einer der 16, die seinerzeit hingerichtet werden sollten.“ Mit Norbert Blüm ist für Deutschlands Politik und Gesellschaft eine leuchtende Fackel erloschen.