«Ist die Schweiz eine (chancen-)gerechte Gesellschaft für alle?» lautete das Thema der Jahrestagung der Eidgenössischen Migrationskommission. Obschon alle Menschen in diesem Land, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, aufgrund unserer Bundesverfassung die gleichen Bildungschancen haben sollten, ist dieses Ziel keineswegs erreicht. Kinder aus gebildeten Schichten werden gegenüber fremdsprachigen Kindern bevorzugt. Viele Talente bleiben ungenutzt.
Eindrücklich waren die Ausführungen von Jürg Schoch, Erziehungswissenschafter und ehemaliger Rektor des Gymnasiums Zürich Unterstrass. Danach haben Kinder aus Akademikerfamilien bei gleicher schulischer Leistung eine siebenmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen als Kinder aus Familien mit niedrigerem Bildungsniveau. Diese krasse Ungleichheit setzt sich im Erwachsenenleben fort: Im Alter von 26 Jahren verfügen 43% der jungen Menschen aus der Oberschicht über einen Hochschulabschluss, während von jenen aus einfachen Verhältnissen bloss 12% einen solchen Titel erreicht haben. Doch das ist nicht alles: Zehn Jahre zuvor besuchten diese Jugendlichen den gleichen Schultypus, erzielten die gleichen Noten und schnitten im Pisa-Test gleich gut ab.
Verschleuderte Talente
Aufgrund weiterer Untersuchungen lässt sich die Neigung von Lehrerinnen und Lehrern feststellen, an Kinder aus gehobenem Milieu höhere Erwartungen zu stellen und sie auch besser zu benoten, während von Arbeiterkindern weniger Leistungsbereitschaft vorausgesetzt wird und auch die Noten tiefer ausfallen. Augrund dieser Ergebnisse stellt Erziehungswissenschafter Schoch fest, dass die bestehenden Talente nicht ausgeschöpft würden, was eine Verschleuderung von Ressourcen bedeute. Bildhaft stellte Schoch fest: «Die Schweiz hätte zwar vier Pferde im Stall, aber sie fährt zweispännig.»
An der Tagung bekräftigten mehrere Diskussionsteilnehmer, der Misstand sei erkannt worden. Doch die Frage bleibt: Sind Lehrerinnen, Lehrer, aber auch Eltern, bereit, aufmerksamer zu sein, besser zusammenzuarbeiten und ihr Verhalten zu ändern?
Das Rezept: Frühförderung
Ein Teil der Kinder wird trotz hilfsbereiter und achtsamer Lehrpersonen in der Schule zurückbleiben. Es handelt sich vor allem um Kinder von Eltern, die selber mehr schlecht als recht Deutsch sprechen; zu einem kleinen Teil auch um Kinder von Schweizer Eltern, die in zerrütteten Verhältnissen und in Armut leben oder deren alleinerziehende Mütter überfordert sind. In solchen Fällen ist die Frühförderung der Schlüssel zum Erfolg. Das Projekt Zeppelin ist vom Puschlaver Andrea Lanfranchi entwickelt worden, der an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich tätig ist. Dessen Merkmal: Bereits vor der Geburt besucht eine qualifizierte Elterntrainerin, manchmal begleitet von einer interkulturellen Übersetzerin, alle zwei Wochen die junge Familie.
Es wird allmählich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, die Mutter wird auf das Kind vorbereitet, nach der Geburt, wir die Mutter darin geübt, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, mit ihm zu spielen. So festigt sich die Beziehung zum Kind. Weiter wird über Schlafen, Ernährung, Gesundheit und Disziplin gesprochen. Es werden zudem periodisch Treffen mit andern Eltern in ähnlicher Situation organisiert, wodurch die Isolation überwunden und das Selbstvertrauen der Eltern gestärkt wird. Diese intensive Zusammenarbeit dauert bis und mit dem ersten Kindergartenjahr, endet also in der Regel ein Jahr vor dem Schulentritt.
Erfolg zeigt sich noch nach Jahren
Aufgrund der Studie, die 132 Familien vor allem im Kanton Zürich umfasste, welche durch Zeppelin während mehreren Jahren begleitet wurden, lässt sich nachweisen dass die Kinder erfolgreich den Schulbeginn schafften. Mit Genugtuung kann Andrea Lanfranchi darauf hinweisen, dass noch drei vier Jahre danach der Erfolg sichtbar bleibt. Dies im Vergleich zu den Kindern der rund 120 Familien der Kontrollgruppe, die an Zeppelin nicht beteiligt waren. Inzwischen ist das Zeppelin-Angebot auf einen Teil des Kantons Thurgau ausgedehnt worden; auch im Kanton St. Gallen sowie im Kanton Tessin ist es eingeführt worden.
Die neuste Ausgabe der Zeitschrift der Migrationskommission „terra cognita“ ist der Chancengleichheit für alle gewidmet; sie kann unter www.terra-cognita.ch heruntergeladen werden.