Auf den Bühnen der Welt gibt es viele Verrückte. Die Bühne ist der Ort, an dem man für die Zuschauenden auch die verborgenen und dunklen Aspekte des Lebens zur Darstellung bringen kann. Im gelebten Leben führen diese ein Schattendasein, werden versteckt und bleiben verborgen. Der Wahnsinn darf nicht ans Licht kommen, er wird verdrängt und «verwahrt», weil er stört und die den Anforderungen des Lebens Angepassten verstört.
Wahnsinnsarien
Wahnsinn auf der Bühne kennen wir seit den antiken Dramen. Das Christentum wollte ihn in Form der von bösen Geistern und Dämonen besessenen Menschen durch Exorzismus austreiben und los werden. Die Renaissance brauchte keine Teufel und Dämonen aus der Unterwelt mehr, ihre Autoren erkannten diese bereits als einen im Menschen selbst sich öffnenden Abgrund, als die Schattenseite der Vernunft und als die Nachtzone des Geistes. Am eindrücklichsten wohl verkörpert in Shakespeares Drama des «King Lear» (um 1606).
In der Romantik entstanden neue Bedürfnisse im Umgang mit dem Irrationalen. Im Musiktheater sogar etwas, was im Laufe der Operngeschichte als «Wahnsinnsarie» bekannt wurde. Meist sind es Frauen, die ob der ihnen zugemuteten Entsagungen, Verletzungen und Verluste den Verstand verlieren. Bereits zu Beginn der Operngeschichte plante Monteverdi eine Oper, in welcher eine Frau durchdreht («La finta pazza Licori»). Hier freilich noch aus bloss «gespieltem» Wahn, um an ihren ohne die Verstellung nicht zu gewinnenden Liebhaber zu kommen. Die den Wahnsinn mimende Geliebte war eine Glanzrolle auf den Bühnen der «Commedia dell’ arte». Auf der Unterhaltungsbühne war alles gefragt an Übertreibungen, Schreien, Drohungen, gespielter Verzweiflung und somit an glaubwürdig prätendiertem Wahnsinn, um die Zuschauer zum Lachen und zu Tränen zu bringen. Von Monteverdis Musik zu dieser geplanten Komödie ist uns leider nichts erhalten. Der Komponist selbst scheint das Projekt im Verlauf seines Lebens aufgegeben zu haben.
Die Romantik wollte aber den Wahn aus Entsagung und Verhinderung als ein real existierendes Menschenschicksal auf die Bühne bringen, nicht als blossen Theaterjux. Die Frauengestalten, die an der Realität zerbrachen und im Wahn oft selbst zu unschuldigen Verbrecherinnen wurden, tragen in romantischen Dramen und Opern viele Namen: Lucia di Lammermoor, Linda di Chamounix, Lady Macbeth, um nur wenige zu nennen. Von Maria Callas gibt es ganze CDs, die von ihr gesungene «Mad-Scenes», also Wahnsinnsszenen versammeln.
Ein Sonderfall
Die Mozartzeit ist vor allem charakterisiert durch eine Krise der traditionellen «Opera seria» und durch das Erscheinen zeitgemässerer Formen des Musiktheaters. Man könnte sie als die «ernsthaften Komödien» bezeichnen, und dazu gehören ja Mozarts drei absolute Meisterwerke, die Da-Ponte Opern Figaro, Don Giovanni und Così.
Ein äusserst erfolgreicher Zeitgenosse von Mozart war Giovanni Paisiello (1740–1816), in Tarent geboren, in Neapel gestorben, jedoch europaweit tätig und erfolgreich. Er schrieb insgesamt über 100 Opern, viel Kirchenmusik, auch beachtliche Instrumentalwerke darf er sein Eigen nennen. Gewirkt hat er neben Neapel beinah konkurrenzlos auch in Sankt Petersburg und während einer gewissen Zeit auch in Paris.
Heute gehören zu seinen beachtetsten und immer wieder aufgeführten Werken die Oper «Nina o sia la pazza per amore» – eine Nina also, die nicht mehr den Wahnsinn spielt, sondern aus Liebe zum tot geglaubten Geliebten wirklich in Wahnzustände verfällt, sodass sie ihre Umgebung und ihre nächsten Verwandten nicht mehr erkennt. Sie braucht sogar sehr lange, bis sie selbst ihren zurückehrenden Lindoro wieder wahrnimmt, aus ihrem Wahn erwacht und geheilt scheint. Diesen Typus der Oper hat man auch «semiseria» genannt, die «halbtragische», weil sie mit einem «lieto fine», einem «glücklichen Ausgang» endet. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren Paisiellos Opern, und seine «Nina» insbesondere, Glanzstücke im Repertoire grosser Sängerinnen, etwa der Celeste Coltellini, welche die Nina bei der Uraufführung 1789 in Neapel sang. Doch feierten dramatisch begabte Mezzosopranistinnen wie Isabella Colbran in der Rossini-Zeit oder Cecilia Bartoli heutzutage mit ihren Interpretationen der verrückten Nina grösste Bühnenerfolge.
Vom Inhalt her betrachtet gehört die Geschichte dieser Nina zu den Rührstücken der Sturm-und-Drang-Zeit, wo man Tränen der Trauer und Tränen der Freude auf der Bühne und im Publikum unbedingt fliessen sehen wollte. Die Franzosen bezeichnen solche Theaterstücke treffend als «comédie larmoyante». Leider hat man diese Musik in der Nachfolge der Romantik oft uninspiriert und uninformiert abgeleiert, sodass selbst bei einem grossen Komponisten wie Paisiello oft mehr Langeweile als Rührung aufkommen musste. Heute hat eine jüngere Generation von Dirigenten und Instrumentalistinnen ein historisch aufgeklärtes und differenziertes Ohr für die ästhetischen Raffinessen der Musik dieser Zeit entwickelt. Nur unter solchen Bedingungen klingt die Musik Paisiellos frisch, aufregend und – gut gesungen – auch zu Tränen bewegend.
Die Klage die den Wahn verkörpert
Die hier vorgestellte Arie aus «Nina» ist ihre «Auftrittscavatine» aus dem 1. Akt „Il mio ben, quando verrà? – Wann wird mein Geliebter kommen?» Nina sitzt, einen Blumenstrauss in der Hand, auf einer Gartenbank. Kommt der Geliebte? Kommt er doch nicht? – so fragt sie sich. Wo könnte er denn glücklicher sein als hier bei mir? Ein ewiges Schwanken zwischen Erwartung, dass er kommen muss, und Enttäuschung, dass er ausbleibt und so viel Zeit verstreichen lässt. Oh wie schlecht es mir geht, gesteht sie.
Doch wenn er kommt und die traurige Geliebte heimsucht, wird sich der sonnige Strand mit Blumen füllen. – Aber ich sehe ihn nicht! – Wenn er seine Leidenschaft für mich den Winden anvertraut, wird er euch Vögeln tausend süsse Melodien lehren. – Doch mein Liebster scheint verstummt zu sein. – Du, erbarmungsvolles Echo, das meine Klagen nie ermüdeten, er kehrt doch zurück und wird dich sanft nach seiner Braut fragen? – Er ruft mich doch, leise, ganz leise. – Nein, oh weh, er ruft mich nicht! Oh Gott, er ist nicht da!
Was macht ein Komponist mit einem solchen Text, der ewig zwischen Hoffnung und Enttäuschung changiert? Paisiello findet eine geniale Lösung für Ninas Verwirrtheit. Er bricht die fortschreitende Melodie immer wieder ab, so als vermöge die Sängerin nichts zu Ende singen, als müsste sie von Strophe zu Strophe erneut Atem holen, um zu sich zu kommen und zu dem, was sie uns sagen will. Eine Art Schizophrenie der Seele, die hier zur Darstellung kommt. Aus einem als Strophenlied gedachten Gesang wird im Verlauf des Geschehens ein Drama des Stockens, des Seufzens, des Innehaltens, eine Erzählung darüber, wie man aus einer Not nie mehr herauszukommen glaubt.
Eine solche Musik schreibt man für eine leidende Frau, die klagend zur Einsicht kommt: Es hat doch alles gar keinen Sinn. Ich drehe mich nur im Kreis! Paisiello hat diese Arie übrigens wundervoll mit Blasinstrumenten ausgestattet und abgefedert. So als käme ein Trost aus einem Naturzustand, den die Verwirrten nicht mehr kennen. Es ist das Vorrecht der Musik, Menschen, die in Verzweiflung geraten, über die Melodie, die Harmonik, aber auch über die Instrumentation unbewusst ahnen zu lassen, dass im Horizont noch Unbekanntes sie erwarten könnte.
Wir hören Ninas Arie in einer Aufnahme mit der grossen Mezzosopranistin Teresa Berganza. Eine Decca-Produktion mit dem Orchestra of the Royal Opera House, Covent Garden, mit Sir Alexander Gibson am Dirigentenpult, aus dem Jahr 1960.