Der Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann, der an der Universität Bielefeld gelehrt hat, analysiert die Ursachen des Niedergangs der römisch-katholischen Kirche. Sie liegen weit zurück und waren ursprünglich die Basis ihres einzigartigen Aufstiegs. Aber sie führten in die gegenwärtige Sackgasse.
Die katholische Kirche gehört zu den ältesten religiösen Institutionen der Weltgeschichte. So verwundert nicht, wenn sie bisweilen den Eindruck hinterlässt, nicht ganz in der Gegenwart angekommen zu sein. Oder wenn im Innern um ihre Zukunftsfähigkeit hart gerungen wird. Zwar versucht sie gemäss dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Herrschaft des Klerus zu durchbrechen und in Synoden zusammen mit Laien eine Verheutigung der Kirche voranzubringen. Konservative Kräfte wie der ehemalige oberste Glaubenshüter Kardinal Gerhard Müller sehen darin jedoch «eine feindliche Übernahme der Kirche Jesu Christi», der man unbedingt widerstehen müsse. Die Fronten sind verhärtet, und der Papst ist als oberster Brückenbauer nicht selten überfordert.
Ein wenig abseits der theologischen Grabenkämpfe bewegt sich der kirchensoziologische Blick auf die Institution. Ein Doyen der Religionssoziologie ist Franz-Xaver Kaufmann, gebürtiger Zürcher und langjähriger Ordinarius für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seine Einlassungen auf die Konflikte in der katholischen Kirche sind scharfsinnige Analysen und zeugen zugleich von einem soliden theologischen Sachverstand, einer intimen Kenntnis der Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und gelegentlich auch von der Leidenschaft eines engagierten Katholiken. Der Exodusverlag hat Mitte Oktober neuere Aufsätze des über 90-Jährigen unter dem Titel «Katholische Kirchenkritik» herausgegeben. Einige Argumentationslinien seien hier skizziert, die Kürze der Darstellung soll allerdings über die historische Komplexität der behandelten Themen nicht hinwegtäuschen.
Der europäische Sonderweg der Religion
Wer dem Diskurs der Globalisierung folgt und die Geschichte der Kirchen in Europa zum Modell für die weltweite Entwicklung der Religionen und demnach für die Säkularisierung der Gesellschaften auf anderen Kontinenten macht, ist überrascht von Kaufmanns Gegenthese, dass der europäische Weg der Religion ein Sonderweg ist. Die mit dem Begriff Religion verbundene Unterscheidung von Kirche und Welt, sakral und profan, geistlich und säkular ist nur auf europäischem Boden entstanden, wie schon Max Weber feststellte. Bereits mit dem Monotheismus zieht sich das Numinose aus dem Alltag zurück, sodass die Welt einer rationalen Analyse zugänglich wird. Viel später, nach der Konstantinischen Wende, führt die Verbindung von Thron und Altar zum Streit zwischen Kaiser und Papst. Er kann nur gelöst werden, indem die Zuständigkeit für den geistlichen Bereich (Civitas Dei) von der Macht über den weltlichen Bereich (Civitas terrena) geschieden wird. Diese Ansätze führen im zweiten Jahrtausend schliesslich zur Trennung von Kirche und Staat. Doch erst mit der Ausbreitung der westlichen Kultur diffundiert der Religionsbegriff über Europa hinaus.
Was ist katholisch, was ist römisch?
Diese historische Entwicklung blieb nicht ohne Folgen für die katholische Kirche. In der Auseinandersetzung über die Macht in Staat und Kirche war für den politischen Bereich die Konzentration auf den Kaiser im Römischen Reich schon vorgezeichnet. Die Uniformierung und Monopolisierung der kirchlichen Macht hingegen wurden erst im zweiten Jahrtausend erreicht. Der Klerus beanspruchte die Herrschaft über die Gläubigen für sich, und sein oberster Vertreter, der Papst, wurde im 19. Jahrhundert zum unfehlbaren Lehrer und zum Gebieter über alle Bischöfe (Jurisdiktionsprimat) erklärt. Der hohe Preis ist bekannt: der Verlust der Vielfalt der Kirchen des Ostens im 11. Jahrhundert, die Abspaltung von den Kirchen der Reformation im 16. Jahrhundert und die fehlende Anschlussfähigkeit an die Moderne durch den Widerstand gegen die Aufklärung im Ultramontanismus und Antimodernismus des 19. und 20. Jahrhunderts.
Den schärfsten Ausdruck findet der «zunehmende Widerspruch zwischen der beanspruchten Katholizität und der tatsächlichen Provinzialität» (S. 35) in der zwiespältigen Rolle der päpstlichen Kurie. Sie steht im Dienst des Papstes, doch der Papst ist von ihr ebenso abhängig wie umgekehrt, und kaum einer hat sie im Griff. Die Macht dieses Handlungszentrums der Kirche hat Johannes Paul II. im Kirchenrecht von 1983 (dem Grabstein für das letzte Konzil, wie manche sagen) noch zementiert. Es gab dem sakralisierten Selbstbewusstsein des ältesten Global Players einen zusätzlichen Schub. Selbst die gut 5000 Bischöfe begegnen den Vertretern des Stellvertreters Christi auf Erden in der Kurie wie Bittsteller. Dialog, Mitbestimmung, gar Ökumene sind in diesem Kontext nicht vorgesehen.
Dabei zählt die Zentralverwaltung der katholischen Kirche nur etwa ein Zehntel des Personals der Stadt Zürich. Hervorgegangen ist sie aus der Verwaltung des Kirchenstaates, der 1870 bei der Eroberung durch die Truppen Garibaldis als einer der korruptesten und am schlechtesten regierten Staaten Europas galt. Vor diesem Hintergrund erstaunt, wie effizient die Kurie seither ihre zentralistischen und traditionalistischen Interessen durch Konkordate, Nuntiaturen, Treueide und verweigerte Appellationsinstanzen durchsetzen konnte. «Die grösste Religionsgemeinschaft der Welt wird von einem kleinen Kreis alter Männer regiert, die sich jeder menschlichen Verantwortung im Namen Gottes entziehen und von den Bischöfen, Priestern und Gläubigen der Weltkirche unbedingten Gehorsam für ihre Entscheidungen einfordern, ohne Rücksicht auf deren Plausibilität am Ort. Das stellt die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Botschaft selbst mehr und mehr in Frage.» (S. 144).
Widerspruch zu den Ambivalenzen der Moderne
Der monolithische Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche kollidiert zunehmend mit der wachsenden Komplexität und Unübersichtlichkeit postmoderner Welterfahrung. Der Pluralismus der Wertorientierungen ist nicht mehr einholbar und erfordert (nach dem Soziologen Lothar Krappmann) eine Ambiguitätstoleranz. Die erst 1965 vom Konzil anerkannte Religionsfreiheit ist ein Beispiel für gegenläufige Wahrheitsverständnisse. Die Kirche kann und soll eine Kernidentität für sich beanspruchen, aber gleichzeitig in peripheren Zuständigkeitsbereichen flexibel auf ihre Umwelt zugehen und die frühere Überdehnung ihrer normativen Kompetenzen zurücknehmen. Auch innerkirchlich sind mehr Pluralität und Subsidiarität und weniger hierarchische Kontrolle angezeigt. Glaubwürdigkeit und Vertrauen kann nur gewinnen, wer sich auf die Zwiespältigkeiten und Polyvalenzen der Moderne einlässt und exemplarische Problemlösungen vorlebt.
Vier Krisen der gegenwärtigen Kirche
Das absolutistische Selbstverständnis der Hierarchie erlaubt keine Checks and Balances und führt zu einer Strukturkrise, weil eine institutionalisierte Lernfähigkeit und damit eine Reformbereitschaft fehlen.
Die Pastoral gerät in eine Krise, weil das gemeindliche Leben erodiert und zu einem Traditionsabbruch führt.
Die von Bischöfen oft genannte Gotteskrise, die einen Rückzug Gottes aus der Welt suggeriert, ist in Tat und Wahrheit eine Glaubenskrise, deren Ursache in Mängeln der Verkündigung liegt. «Die Frage steht im Raum, ob eine absolutistisch geführte Klerikerkirche im Horizont einer auch religiösen Weltvergesellschaftung dem Willen Gottes für unsere Zeit noch entspricht.» (S. 81). «Die Kirchen haben das kulturelle Monopol für Religion verloren und wirken manchmal ratlos angesichts der zunehmenden Diffusion des Göttlichen in unserer Kultur.» (S. 83). Das Anziehende, ja Faszinierende der christlichen Gottesverheissung «verbindet sich immer weniger mit den religiösen Virulenzen unserer Kultur.» (S. 84).
Die epochalste und verstörendste Krise ist jedoch die Missbrauchskrise, die auch dem Kirchenvolk unmittelbar unter die Haut geht. «Nicht der Kindsmissbrauch als solcher» und die barbarischen, aber keineswegs typisch kirchlichen Züchtigungsformen sind «das moralische Problem der Kirche, sondern ihre Unfähigkeit, die eigenen pathogenen Strukturen und die Folgen ihrer klerikalen Vertuschungen zu erkennen, zu erörtern und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen.» (S. 89). Der moralische Skandal besteht darin, dass nur die Heiligkeit der Institution interessiert und nicht das Leiden der Opfer. Die Glaubenskongregation verlangte 2001 unter Kardinal Ratzinger für alle behandelten Fälle strengste Verschwiegenheit (das «Päpstliche Geheimnis»). Ihre Strafandrohungen für den Geheimnisbruch waren entsprechend strenger als für die zu verheimlichenden Taten. Kardinal-Staatssekretär Sodano demonstrierte 2010 zu Beginn des Ostergottesdienstes auf dem Petersplatz vor aller Welt die moralische Lethargie der Kirchenführung. Auf dem Höhepunkt der Missbrauchskrise wandte er sich mit den Worten an Benedikt XVI.: «Heiliger Vater, das Volk Gottes ist mit dir und wird sich nicht vom Gerede der herrschenden Meinungen beeinflussen lassen.» (S. 16).
Auf die Frage, wie die gegenwärtige Vertrauenskrise gegenüber der katholischen Kirche, die mit den vier genannten Krisen einhergeht, überwunden werden kann, verwenden die Soziologen die Metapher der Häutungen. «Stets erneut hat sich das Christentum in bestimmten kulturellen und sozialen Kontexten inkulturiert und ist in seinen Sozialformen durch sie mitgeprägt worden. Und mit deren Vergehen ist es genötigt, das Zeitgebundene auch ihrer Formen zu reflektieren, sie abzustossen und eine neue, passende ‹Haut› zu entwickeln.» (S. 82). Der Vertrauensverlust betrifft nicht in erster Linie das Personal, sondern «die Kirche als soziale Institution, ihren Zentralismus, ihr monokratisches Selbstverständnis, die klerikalen Mentalitäten, die Ineffektivität einer immer noch höfischen Organisation und den Mangel an Rechtssicherheit und Fairness im Bereich konflikthafter Entwicklungen.» (S. 89).
Kein abgehobener Klerikerstand
Das Zweite Vatikanische Konzil hat an zentraler Stelle, in der Konstitution über die Kirche, einen Ausweg aus der versteinerten Unbeweglichkeit des hierarchischen Zentralismus gewiesen. Danach ist die Kirche nicht in erster Linie eine Hierarchie, sondern das Volk Gottes auf der Wanderschaft durch die Geschichte der Menschheit. Nicht Befehl und Gehorsam sollen den Glauben bestimmen, sondern das tastende Suchen nach den Zeichen der Zeit und das Verbinden der Botschaft Jesu mit den Nervenzentren der Gegenwart. «Nur eine Kirche, die den ursprünglichen Liebesimpuls der Bewegung erneut zur Maxime ihres Handelns werden lässt, hat noch Aussichten, Vertrauen zu erzeugen. Das erfordert auch ein neues institutionelles Verhältnis zwischen Klerus und Laien.» (S. 110).
Dabei ist «die organisatorische Zentralisierung der katholischen Kirche in weltgeschichtlicher Perspektive durchaus als eine erfolgreiche Anpassungsstrategie an die Modernisierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse» (S. 123) zu würdigen. Die Transnationalität des Katholizismus hat einen wesentlichen Beitrag zur Verselbstständigung von Religion als gesellschaftlichem Teilsystem geleistet. Die katholische Kirche bietet im Zeitalter faktischer Globalisierung als einzige der Weltreligionen das Modell eines global handlungsfähigen Akteurs. Und die Romzentrierung der Katholiken erlaubt es ihnen, dem politischen Druck nationaler Vereinnahmungen besser zu widerstehen.
Dem stehen grosse Versagen gegenüber: Fehlbesetzungen von Bischöfen (Haas, Groer, Huonder u. v. a. m.), der klerikale Missbrauch von Jugendlichen und von Nonnen, ein verkrampftes Zölibatsgesetz, die Verhinderung einer zeitgemässen Sexualmoral. Es ist bemerkenswert, wenn der Klerikalismus – einst ein laizistischer Kampfbegriff gegen die Kirche – neuerdings vom Papst selbst aufgenommen und als Laster bekämpft wird. Dabei zielt Franziskus nicht in erster Linie auf die Überdehnung und Übergriffigkeit kirchlicher Ansprüche in weltliche Bereiche, sondern auf die herabwürdigende Mentalität einer elitären Klerikerkaste gegenüber den Laien in der Kirche.
Wenn Glaube nicht mehr ein dürres «Für-wahr-Halten» von Katechismus-Sätzen ist, sich vielmehr auf das Gottesgeheimnis einlässt, es feiert und seine Beziehung zur Transzendenz im Leben umsetzt, gibt es nicht mehr Herr und Knecht, Klerus und Laie, Überlegene und Machtlose. Am Massstab Jesu gemessen wäre dies wohl eine freundliche und freiheitliche «Übernahme der Kirche Jesu Christi» (Kardinal Müller), welche die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringt.
Intellektualität an der Stelle von Unterwürfigkeit
Zum Abschluss plädiert Franz-Xaver Kaufmann für eine katholische Intellektualität. Sie «beruht auf der Annahme – oder hoffentlich Einsicht –, dass die Eigenwertigkeiten der verschiedenen Konfessionen auch heute noch Wesentliches für ein modernitätsresistentes und zukunftsfähiges Christentum bereithalten. Katholische Intellektualität heute bedeutet kritische Vergewisserung der eigenen Tradition im Horizont verschiedener ‹Post›-Diagnosen – von der Postmoderne bis zur Postsäkularität. Und sie bedeutet Zeitkritik im Lichte von daraus gewonnenen Einsichten und Überzeugungen, unter Berücksichtigung der jeweiligen Fach- und Sachkompetenzen, die einem jeden von uns durch Bildung, Beruf und Lebensumstände zugewachsen sind.» (S. 195).
Franz-Xaver Kaufmann: Katholische Kirchenkritik. «... man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Methode vorsingt!», 198 Seiten, Exodus Edition, Luzern, Oktober 2022. 24,90 Franken