Es sind nur zwei Worte. Aber sie gehörten 60 Jahre, also bis zu diesem Frühjahr, zum politischen, moralischen, gesellschaftlichen und damit auch geistigen Fundament Deutschlands nach dem Krieg. Nie wieder! Gilt das noch? Die Stimmung ist angespannt.
Nie wieder Und zwar in einem doppelten Sinne: Nie wieder sollen Aggression und Gewalt von Deutschland ausgehen. Und nie wieder dürfen (und wollen!) die Deutschen agitatorischen Verführern und deren Hetzparolen gegen andere Menschen oder gar andere Völker verfallen und ihnen folgen.
Eine Erfolgsgeschichte
Damit sind wir gut gefahren. Mehr noch – die sechs Jahrzehnte seit dem in einer Katastrophe geendeten Hitlerreich waren eine (zumindest für Westdeutschland) durchgehende Erfolgsgeschichte. In einer, aus damaliger Sicht, kaum für möglich gehaltenen kurzen Zeit wurde die Bundesrepublik auch von der Mehrzahl der vorherigen Kriegsgegner wieder aufgenommen in den Kreis der zivilisierten, demokratischen Staaten. Und dies, obwohl von deutschem Boden aus zuvor die halbe Welt in Brand geschossen worden war und die mit dem Namen Ausschwitz nur symbolhaft beschriebenen Völkermorde den deutschen Namen eigentlich auf ewig jeglichen Glanzes beraubt zu haben schienen.
Wiederaufbau des total zerstörten Landes, „Wirtschaftswunder“ in den „50-ern“ (ohne das die Aufnahme und Integration der 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen unmöglich gewesen wäre) und noch immer ökonomisch-technisch Weltklasse. Schließlich auch noch das völlig unverhoffte Wunder der Wiedervereinigung vor 25 Jahren einschließlich der Tatsache, zum ersten Mal in der Geschichte jenseits der eigenen Grenzen keinen einzigen Feind mehr zu haben.
Ein Volk, dem so viel Gutes widerfuhr und das auch selbst so viel Gutes schuf, müsste - jedenfalls sollte man das meinen – eigentlich glücklich sein. Und wenn schon nicht rundum, so doch wenigstens einigermaßen. Zumal es ja durchaus stolz sein könnte auf das Geschaffene.
Grenzen des Anstands
Wie gesagt – sollte man meinen. Doch nichts davon ist in diesen Tagen bei uns zu verspüren. Im Gegenteil: Der (zugegeben besorgniserregende) extrem massive Zustrom von Flüchtlingen aus Nah- und Mittelost sowie Asylsuchenden aus diversen Balkanländern hat bei Teilen der Bevölkerung nicht nur Sorgen, sondern teilweise panische Ängste ausgelöst. Und keineswegs nur das. Bei eben jenen Teilen herrscht inzwischen eine Stimmung (und wird verbreitet), die nur noch von Hass und Feindschaft getragen wird. Dies in einer Sprache, die längst alle Grenzen des Anstands überschritten hat.
Das sind längst nicht mehr nur die üblichen Dumpfbacken und Gewaltsuchenden, die es links und rechts an den Rändern jeder Gesellschaft gibt. Nein, mittlerweile haben sich davon auch Gruppierungen in der so genannten Mitte anstecken lassen - Zeitgenossen also, die normalerweise friedlich und unauffällig ihren Tagesgeschäften nachgehen. Das zu beobachten, macht unruhig. Wohin bloß steuert unser Land, wohin unsere Zivilisation?
Es ist ja unbestreitbar, dass die noch immer praktisch unkontrolliert einströmenden Menschmassen Unbehagen bis Beklemmung auslösen können. Es ist, weiter, eine Tatsache, dass beim Versuch der Krisenbewältigung auf den politischen Entscheidungsebenen erhebliche Fehler begangen wurden und noch immer mehr Hilflosigkeit als Entscheidungsstärke nach außen vermittelt wird.
Es wäre daher kein Wunder, sondern ein in einem demokratischen Staat ganz normaler Vorgang, wenn sich in einer solchen Situation Protest formierte und in Demonstrationen manifestierte. Doch solche Vorstellungen sind offensichtlich veraltet, Massendemos wie früher (lautstark, aber friedlich) anscheinend out und uncool. Was Woche für Woche in Dresden, mehr noch täglich im Internet bei facebook und anderen (un)sozialen Netzen geschieht und verbreitet wird, ist schlicht unanständig. Ja, es erfüllt nicht selten den Tatbestand der Volksverhetzung. Und es sind – deprimierend genug – eben immer mehr so genannte einfache, „normale“ Leute darunter.
Natürlich: Die Sorgen ernst nehmen
Klar, und überhaupt keine Frage: Bei weitem nicht alle, die in Dresden vor der Semper-Oper oder in Erfurt auf dem Domplatz dabei sind, gehören zu den Hassbürgern. Viele fühlen sich schlicht überrollt angesichts der täglichen Bilder von den Flüchtlingstrecks und haben vor allem Sorge vor der „Andersartigkeit“ der Zuströmenden. Und sie fühlen sich vor allem von der Politik allein gelassen mit ihren Befürchtungen.
Dazu kommt diese unsägliche Neigung nicht zuletzt links-grüner Kräfte, solche Kritiker der aktuellen Flüchtlings- und Asylpolitik in die rechte Ecke zu stellen. Welch ein Unsinn! Auf der anderen Seite müssen sich die (nennen wir sie mal so) gutwilligen Mitläufer die Frage gefallen lassen, warum sie beispielsweise nicht ihrer Empörung lautstark Ausdruck verleihen, wenn in Dresden Galgen mit den Namen der Kanzlerin und des SPD-Vorsitzenden mitgeführt werden. Denn das ist wahrlich nicht nur eine Frage des guten Geschmacks, sondern eine klare Aufforderung zu handeln. Zu welchen Taten wohl?
Völlig überschritten sind längst die Grenzen des Geschmacks, des Anstands und einer Erziehung bei dem, was gegenwärtig vor allem Politikern an Beschimpfungen, Schmähungen, ja sogar unmissverständliche Drohungen widerfährt. Mittlerweile sind offensichtlich sogar die letzten Grenzen der Scham gefallen. Sonst wäre überhaupt nicht erklärbar, dass Abertausende etwa in den „sozialen“ Netzen unter voller Angabe ihres Namens übelste Tiraden loslassen, bei denen Ausdrücke wie „Pack“, „Gesindel“ oder „Lumpen“ sogar noch unter „gemäßigt“ abgebucht werden können.
Sprachliche „Anleihen“ an das „Tausendjährige Reich“ sind längst gang und gäbe – „Lügenpresse“, „Systemparteien“, „Vaterlands-Verräter“… Gerade erst wurde in Charlottenburg Helmut Schümann, ein kritischer Mitarbeiter des Berliner „Tagesspiegel“ von hinten attackiert und niedergeschlagen. Zufall, oder waren vorher rhetorische Brandstifter am Werk? Und wie groß ist die Zahl derer, die beim Abfackeln von Unterkünften für Flüchtlinge klammheimliche, vielleicht sogar offene Freude empfinden?
Wohin steuern wir?
Damit sind wir wieder bei der Eingangsfrage: Wohin steuert eigentlich unser Volk? Und Volk, das sind wir alle hier in Deutschland. Wer Häuser in Brand steckt, nimmt logischerweise von vornherein den Tod von Menschen in Kauf. Als die Deutschen „Nie wieder“ schworen, da hatten ganz sicher viele auch die brennenden Synagogen vom 9. November 1938 in der Erinnerung.
Wenn heute in wahrscheinlich nicht einmal unbedeutenden Gruppen der Gesellschaft im Umgang miteinander bereits die Sprache keine Scham- und Anstandsgrenzen mehr kennt – wie lange wird es dann wohl dauern, bis der verbale Hass sich in Taten verwandelt? Müsste das Attentat auf die neue Kölner Oberbürgermeisterin nicht eigentlich wie ein Fanal gewirkt haben, wie ein innerer Befehl zur ideologischen Umkehr? Gilt das Versprechen „Nie wieder“ wirklich immer noch…?