Sachsen-Anhalt zählt nicht wie Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg zu den grossen deutschen Bundesländern und kann auch nicht – wie Sachsen und Thüringen im Osten nach der Wiedervereinigung – auf eine so erfolgreiche wirtschaftliche Aufholjagd zurückblicken. Im Gegenteil – die rund 2,2 Millionen Menschen in der Region mussten nach dem Ende der DDR ziemlich viele schmerzhafte Nackenschläge hinnehmen. Es brauchte lange Jahre, bis beispielsweise das technisch total veraltete und extrem die Umwelt belastende Chemie-Zentrum Leuna/Bitterfeld dem Weltniveau angepasst wurde. In Magdeburg musste ein ähnlicher Prozess beim traditionsreichen Maschinenbau überstanden werden.
Nicht nur Ruinen, auch Leuchttürme
Aber das von Niedersachsen im Westen, Mecklenburg-Vorpommern im Norden, Sachsen im Osten und Thüringen im Süden umschlossene Land an Elbe und Saale hat seinen Besuchern bedeutende kulturelle „Leuchttürme“ und geschichtliche Juwelen zu bieten. Das gilt für das „Bauhaus“ in Dessau mit seinem prägenden Einfluss auf die Welt-Architektur genauso wie für die berühmten „Wörlitzer Gärten“, die Luthergedenkstätten Eisleben und Wittenberg, die einmalig schönen Fachwerk-„Perlen“ Quedlinburg und Wernigerode, den Naumburger Dom mit der bekannten Stifterfigur Uta oder die Universitätsstadt Halle mit der namhaften Kunsthochschule für Design „Burg Giebichenstein“.
Hier also wird am 6. Juni ein neuer Landtag gewählt. Es ist die dritte wichtige Regionalentscheidung von insgesamt sechs in diesem deutschen „Superwahljahr“ vor dem politischen Höhepunkt – der Bundestagswahl am 26. September. Zwei Landtagsabstimmungen – in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg – sind bereits erfolgt. Beide mit schmerzlichen Verlusten für die CDU – was deshalb von besonderem Belang ist, weil nach 16 Jahren Regierung Angela Merkel nicht noch einmal für das Kanzleramt kandidiert und sich die Union nach einem langen, alles andere als freundlich verlaufenen „Wahlkampf“ für den CDU-Chef und nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet statt für dessen bayerischen Kollegen Markus Söder (CSU) als gemeinsamen Kanzlerkandidaten entschieden hat.
„Bollwerk gegen rechts“
Vom Ausgang der Wahlen zum nächsten Magdeburger Landtag erwartet alle Welt verwertbare Hinweise auf den politischen Zustand auch der übrigen Bevölkerung in Deutschland. Im Klartext – vor allem natürlich auf die Wahrscheinlichkeit der Zusammensetzung des künftigen Bundestages. Warum? Weil in Sachsen-Anhalt während der vergangenen fünf Jahre eine parteiliche Farbkombination die Mehrheit bildete, die mit den bisherigen politischen Koalitionsverhältnissen nichts zu tun hatte. Der christdemokratische Ministerpräsident Reiner Haseloff (67) schmiedete 2016 ein so genanntes Kenia-Bündnis mit der SPD und den Grünen. Das hatte damals absolut nichts mit persönlichen Sympathien oder grösseren politischen Übereinstimmungen zu tun. Nein, die drei so unterschiedlichen Parteien schlossen die Allianz allein und ausschliesslich als „Bollwerk gegen rechts“. Denn nur durch diesen Zusammenschluss konnten seinerzeit Macht und Einfluss der rechtsextremen Allianz für Deutschland (AfD) eingegrenzt werden. Die AfD war nämlich von den Wählern als zweitstärkste Kraft ins Magdeburger Parlament gehievt worden.
Tatsächlich hat in den Folgejahren allein die Sorge vor den Radikalen am äussersten rechten Rand des Parteienspektrums Haseloffs „Kenia“-Truppe zusammengehalten. Die Finger beider Hände reichen nicht aus, um die Krisen zu addieren, an denen die Magdeburger Landesregierung jedes Mal kurz vor dem Platzen stand. Nicht selten war der Anlass banal. So vor etwa einem Jahr, als der Landtag einem Beschluss der deutschen Ministerpräsidenten zustimmen sollte, dass die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten die Rundfunkgebühren um 86 Cent anheben dürfen. Dagegen regte sich Widerstand in Haseloffs CDU, dem sich die oppositionelle AfD sofort anschloss. Hätte der Ministerpräsident unter diesen Umständen eine Abstimmung mit CDU/AfD-Mehrheit riskiert, wären SPD und Grüne sofort aus der gemeinsamen Regierung ausgetreten.
CDU oder AfD, „Kenia“ oder was?
Natürlich blickt, wer politisch interessiert ist, jetzt gespannt auf Magdeburg. Die Meinungsumfragen sind nur in dem Punkt einigermassen aussagekräftig, dass sie knappe Ergebnisse prophezeien. Zwar liegen bei den meisten Instituten der Ministerpräsident als Person und die von ihm geführte CDU vor den Rechtsauslegern. Aber als garantiert gilt das noch keineswegs. Ausserdem: Wer folgt hinter den Christdemokraten und mit wie vielen Prozentpunkten? Reicht es am Ende wieder zu einem demokratischen „Bollwerk“? Oder was wäre die Alternative? Überhaupt – wie sicher kann sich Haseloff seiner Gefolgschaft sein? Er selber beschrieb unlängst in einem Interview die „Bandbreite“ seiner CDU als „Spreizung von links über grün bis AfD“.
Tatsächlich hatten während der Regierungskrise wegen der Rundfunkgebühren zahlreiche christdemokratische Abgeordnete kein Hehl daraus gemacht, dass es auch persönliche Freundschaften mit Kollegen von der AfD gebe – Freundschaften, die bisweilen sogar in Kinderzeiten reichten. Wäre es da ein Wunder, wenn es nicht auch in manchen Denk- und Bewertungsvorgängen zu Übereinstimmungen käme? Dem Vernehmen nach hat keineswegs allein beim Problem um die Rundfunkgebühren eine unangenehme bis gefährliche politische Nähe zwischen zumindest Teilen der sachsen-anhaltinischen CDU und der dortigen AfD bestanden. Und, weiterem Vernehmen nach musste Angela Merkel mehrfach von Berlin aus ordnend in Magdeburg eingreifen.
Das Problem mit Armin Laschet
Die Schlappen bei den Frühjahrswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz konnte der damals gerade erst ins neue Amt gehobene CDU-Chef Armin Laschet noch einigermassen gelassen wegstecken. Mit Sachsen-Anhalt ist das anders. Sollte es auch hier für seine Partei eine Niederlage geben, wäre das ein Fanal für die bevorstehende Bundestagswahl. Während des Machtkampfs um die Kanzlerkandidatur der Union hatten sich Haseloff und seine Partei klar für den CSU-Mann Markus Söder ausgesprochen. Inzwischen gab es mehrere Begegnungen Haseloffs mit Laschet. Ob die Anwesenheit des Mannes aus Aachen Einfluss auf das Ergebnis am Sonntag haben wird, steht zumindest jetzt noch in den Sternen.
Ebenso müssen die Resultate der Meinungsumfragen mit Fragezeichen versehen werden. Denn deutlich mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten hat bereits ihre Stimmen per Briefwahl abgegeben. Dennoch lässt sich wohl als einigermassen gesichert prognostizieren, dass die CDU die Mehrheit behalten wird. Die Vorhersagen schwanken zwischen 26 und 28 Prozent; nur eine einzige sieht die AfD vorn. Ansonsten werden die „Braunen“ bei etwa 24 Prozent verortet. Die Grünen sind auch hier (wen wundert’s bei dem Bundestrend) in der Wählergunst die Sprossenleiter deutlich nach oben geklettert: Waren die einstigen Sonnenblumenfreunde vor fünf Jahren mit gerade mal 5,2 Prozent gerade noch so eben in den Landtag gerutscht, so können sie jetzt mit vermutlich rund 10 Prozent rechnen.
Die Linken im Sinkflug
Auch die Freien Demokraten, die 2016 mit mageren 4,9 Prozent das Ziel verfehlten, werden dieses Mal mit etwa 8 Prozent Zustimmung gehandelt. Im Sinkflug scheinen sich dagegen, genau wie im Bundestrend, auch in Sachsen-Anhalt die Linken befinden. Das ist für die Nachfolger der einstigen DDR-Staats- und Einheitspartei SED eine höchst unangenehme, neue Erfahrung. Handelt es sich in Sachsen-Anhalt doch um eine ostdeutsche Region, wo sich die Linken bereits als eine Art „Volkspartei“ zu fühlen begannen. Und die Sozialdemokraten, die mit Reinhard Höppner von 1994 bis 2002 sogar den Ministerpräsidenten im Land stellten, werden – so scheint es – wahrscheinlich bei den um die zehn Prozent verharren, die sie schon 2016 erzielten.
Mathematisch, wenn nicht noch etwas Dramatisches passiert, könnte das bisherige „Kenia“ nach der Sonntagswahl relativ rasch wieder eine Koalition bilden und erneut ein „Bollwerk gegen rechts“ aufbauen. Stünden da nicht die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin sowie die Entscheidung über die Kommunalparlamente in Niedersachen vor der Tür. Und, ganz besonders wichtig, die Wahlen zum neuen Bundestag und somit die Nachfolgekür nach dem Abschied von Angela Merkel. Kaum anzunehmen, dass angesichts einer solchen Gemengelage die Sachsen-Anhaltiner sich mit der Bildung einer neuen Regierung beeilen werden. Wer wird denn gern durch sein Verhalten Zeichen geben wollen nach Berlin?
Verlierer und Gewinner
Dennoch gilt die Festlegung, dass nach diesem 6. Juni auf Deutschlands politischer Ebene nichts mehr so sein wird, wie es war – oder wenigstens: wie die älteren Semester es aus der Vergangenheit kennen. Als sicher kann gelten, dass wenigstens für die Bundesebene die Zeiten der gewohnten „grossen Koalition“ von Union und Sozialdemokraten vorbei sind. Erstens, weil die Genossen sich trotz ihrer Anstrengungen als Verlierer fühlen und deshalb jetzt wirklich ein- für allemal Schluss machen wollen. Zweitens, weil die einstmals so stolze, grosse, alte und ruhmreiche Volkspartei mittlerweile auf beklagenswerte rund 15 Prozent zusammengeschmolzen ist. Weiter: Während des vergangenen halben Jahres sind die Grünen in der Wählergunst geradezu durch die Decke geschossen und zogen – zumindest demoskopisch – sogar kurzzeitig an der sich in schierem freien Fall befindlichen CDU/CSU vorbei. Inzwischen ist zwar ein gewisser Gegentrend festzustellen. Aber dass die Partei in der nächsten Bundesregierung eine bedeutende Rolle spielen wird, kann – zumindest aus jetziger Sicht – getrost angenommen werden.
Und die einzig (noch) verbliebene Volkspartei CDU/CSU? Die Union konnte sich noch im vergangenen Herbst in einem etwa 40-Prozent-Nest wohl- und heimisch fühlen. Das ist vorbei. Fehler beim Corona-Impfen, Skandale wegen Bereicherung, der unschöne Machtkampf zwischen zwei Alpha-Tieren um die Kanzlerkandidatur – es ist viel Lack abgesprungen, peinliche Schwächen wurden sichtbar, Fragen nach Zukunft und Perspektiven laut. Und, wie überall, erlebt auch Deutschland den Generationenwechsel und steht vor der Notwendigkeit, Antworten auf neue Fragen zu geben. Auch das spielt mit in Sachsen-Anhalt. Obwohl es sich „nur“ um eine Landtagswahl handelt.