Betrügereien in weltweit tätigen Grossunternehmen beschäftigen die Öffentlichkeit. In aller Munde der VW-Konzern, schon etwas vergessen die Grossbanken. Neuerdings erhält Zürich gratis Tourismuswerbung durch spektakuläre Verhaftungen von Fifa-Funktionären. Weniger im globalen Rampenlicht stehen die eigenartigen Connections der Leichtathletik und ihres Verbandes IAAF oder jene zwischen russischen Athleten und Funktionären. Wenn das alles nur die Spitze des Eisbergs ist, was wird da noch auf uns zu kommen?
Grossbanken: Boni und Bussen statt Steuern
47 Milliarden Euro, soviel könnte der Abgasskandal den VW-Konzern kosten, schätzt die Landesbank Baden-Württemberg. Der Anteil an Bussen an die Umweltbehörde EPA ist da schon eingerechnet. 584‘000 Fahrzeuge sind allein in den USA betroffen.
Seit der Finanzkrise haben die Schweizer Grossbanken zwar bereits 9,9 Milliarden (UBS) und 5,9 Milliarden Dollar (CS) an Strafen für diverse Verfehlungen geleistet; bis 2017 könnten aber nochmals 2,9 bzw. 2,3 Milliarden Franken auf die beiden Institute zu kommen, schreibt finews.ch. Das wären dann 21 Milliarden Franken – nur die Bussengelder, Anwaltskosten nicht gerechnet. Boni und Bussen statt Steuern, meinen böse Zungen.
Notorische Betrügereien in der Autoindustrie
Was allgemein bekannt ist: Auch einige andere Autohersteller tricksen, nicht nur bei den Abgaswerten. Jeder Autofahrer hat längst realisiert, dass die im Hochglanzprospekt angegebenen Angaben zum Treibstoffverbrauch nichts mit den tatsächlich realisierten gemeinsam haben.
Diese liegen gemäss neutralen Messungen zwischen 40 und 50 Prozent höher als die Werksangaben. Verbrauchs- und Schadstoffwerte sind Schönwetterindikatoren, sie haben – ähnlich der Kosmetikwerbung am Fernsehen – keinen Praxisbezug. Diese ungeheuerlichen Differenzen kommen also nicht überraschend, neu ist höchstens, dass sie in den letzten Jahren massiv zugenommen haben.
Im Januar 2016 stürzten die Aktien des französischen Autokonzerns Renault um 20 Prozent in die Tiefe – der Verdacht auf Verstösse gegen Abgasnormen ist der Grund.
Zu denken gibt aber auch, dass es in der Branche Wiederholungstäter noch und noch gibt. Schon in den 1970er Jahren bezahlten Chrysler, Ford, General Motors und VW (!) wegen Abschaltvorrichtungen (Defeat Devices) Bussen an das EPA. Andere, wie Chrysler oder Mercedes-Benz einigten sich später auf „kleine“ Bussen in der Grösse von einer Million Dollar, es folgten in den Jahren darauf happigere Bussen an ein gutes Dutzend Hersteller oder Verwender solcher Defeat Devices.
Parallelwelten – doppelte Wirklichkeit
Was hat diese Tendenz zu bedeuten? Ehrliche Bürgerinnen und Bürger verstehen die Welt nicht mehr. Wo überall geht es in ähnlichem Stil zu und her, ohne dass es je ans Tageslicht kommt?
Einer, der sich seit Jahren in diese Problematik vertieft, ist Stefan Kühl (Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisationsforschung, Universität Bielefeld). In seinem Buch „Sisyphos im Management“ spricht er von „offizieller Wirklichkeit“ (festgeschriebene Regeln, Abläufe, Strukturen) und „praktizierter Wirklichkeit“ (erheblich von diesen abweichend). Sozusagen im Schatten des offiziellen Regelwerks diagnostiziert er eine doppelte Wirklichkeit, wobei er diese Doppelmoral in Organisationen als „unmoralische Welt“ beklagt.
Auf einen kurzen Nenner gebracht, beweisen die Felduntersuchungen ein Auseinanderdriften der internen Kernstrukturen (alltägliche Produktionsvorschriften) und der von aussen wahrnehmbaren. Scheinheiligkeit und Heuchelei werden so zu „notwendigen“ Taktiken jeder Organisation, da diese sonst den von aussen an sie herangetragenen widersprüchlichen Erwartungen nicht gerecht werden können. Wörtlich: „Sie [die Organisationen] können die legitim erscheinende und an die institutionellen Umwelten angepasste Schauseite aufrechterhalten und parallel die alltäglichen Aktivitäten an den konkreten Anforderungen ausrichten, um eine funktionierende Produktion sicherzustellen.“
Flexible Regelinterpretation
Da stellt sich jetzt die Frage, ob letztlich „Dienst nach Vorschrift“ in unserer Zeit ein Innovationshemmer sei. Offensichtlich wissen nicht wenige Leute innerhalb der Organisation, dass viele interne Regeln „flexibel“ interpretiert werden. Selbstverständlich weiss das Management davon und achtet sehr darauf, dass ihm nichts nachgewiesen werden kann.
Dementsprechend fieberhaft verlaufen beim Auffliegen von Betrügereien die vom Top-Management angekündigte Suche nach „Schuldigen“ und deren harte Bestrafung. Compliance-Abteilungen werden aus dem Boden gestampft, nach einigen Jahren, wenn das mediale Interesse nachgelassen hat, verlieren sie wieder an Bedeutung. Ist dies jetzt die „normale“ Organisationskultur im 21. Jahrhundert? Dass bewusst Regelverstösse integriert werden?
In den letzten Jahren ist der erneut zunehmende Trend zu beobachten, dass das Top-Management grosser Konzerne den unwiderstehlichen Drang zur Expansion, am besten zur Übernahme des wichtigsten Konkurrenten, verspürt. Gross ist nicht genug, grösser ist die Verlockung, Weltmarktführung das angestrebte Ziel.
Dieser Ehrgeiz ist leider weltweites Charakteristikum gutbezahlter Konzernchefs. So zu beobachten bei VW, dessen vormaliger Konzernchef keinen Hehl daraus gemacht hatte, den Konzern zum mächtigsten Autohersteller der Welt machen zu wollen. Ähnlich wie beim Fall UBS brauchte es amerikanische Behörden, die (nicht ohne nationale Eigeninteressen) Unregelmässigkeiten aufdeckten und Verfahren einleiteten.
Die Fifa-Connection
Der Strafrechtsprofessor Mark Pieth (Universität Basel) äusserte sich zu den Korruptionsvorwürfen im ehrenwerten Verein Fifa dahingehend, dass es bei Bestechungen immer um Macht gehe. Man erteilt Macht, um selber an der Macht zu bleiben. Auf unser Land bezogen, urteilt er gemäss „Tages-Anzeiger“ ziemlich dezidiert: „Die Schweiz hat eine Tradition als Piratenhafen. Wir sind in gewisser Sicht ultraliberal, hatten immer wieder ähnlich gelagerte Probleme: Finanzdienstleister, Kunst-, Rohstoffhändler und Sportdachverbände.“
Pieth sagte schon vor Jahren: „Über der Fifa ist nur der liebe Gott“. Damit meinte er, dass viele Topfunktionäre des Sports in einer eigenen Parallelwelt lebten und den Bezug zur Realität verloren hätten. Wieder taucht also der Begriff Parallelwelt auf. Diesmal allerdings im Zusammenhang mit „Vereinen“, die in der Schweiz bis vor kurzem nicht nur keine Steuern, sondern auch kein Controlling, das den Namen verdient, kannten. Wieder erleben wir, dass erst mit dem Eingreifen der amerikanischen Strafverfolgungsbehörden Steine ins Rollen gebracht werden, welche die Schattenwelten einstürzen lassen.
Gedopte Olympiasieger aus Russland
Dieses Jahr findet die Eishockey-WM und 2018 die Fussball-WM in Russland statt. In diesem Zusammenhang: Letztes Jahr sind Enthüllungen über systematisches Doping der Leichtathleten publik geworden. In der „NZZ am Sonntag“ heisst es dazu: „Insider beschreiben das System als von Grund auf korrupt und den Staat als treibende Kraft. Unter Präsident Wladimir Putin ist der Sport zum Teil der Kriegführung geworden.“
Endlich ist aufgebrochen, worüber schon seit Jahren gemunkelt wird. Nachdem im globalen Elitesport Korruptions- oder Dopingvorwürfe in der Vergangenheit meist ungehört verhallt waren, liess 2015 die Expertenkommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) keinen Zweifel mehr daran, dass Russland systematisch Leichtathleten dopte. Allerdings stellt sich jetzt die Frage, ob ähnliche Untersuchungen in anderen Ländern nicht ähnliche Resultate zu Tage befördern würden.
Und, als wäre das nicht genug: Es zeigt sich jetzt, dass die Spitze des Weltleichtathletikverbands mit ihrem früheren Präsidenten Lamine Diack selbst Dreck am Stecken hat. Nicht nur wurde eine Art Parallelregierung aufgebaut und damit die Exekutive ausgehebelt. Es wurden Athleten erpresst und betrogen. „Wer wen wie betrog, ist dabei unklar,“ schreibt der „Tages-Anzeiger“. Der neue Präsident Sebastian Coe funktionierte damals als einer der fünf Vizepräsidenten – und er soll von allem nichts gewusst haben.
Der Schaden ist angerichtet
Weltweit laufen also Betrügereien in grossem Stil. Man kann beklagen, dass das Vertrauen der Gesellschaft aufs gröbste missbraucht wird. Gemäss „Spiegel online“ kommen Korruption und Diebstähle deutsche Konzerne teuer zu stehen: Auf 8,4 Millionen Euro beziffern Unternehmen durchschnittlich den Schaden, der ihnen durch Wirtschaftskriminalität jährlich entsteht. Ein Grossteil der Täter kommt aus dem Top-Management.
Wenn es tatsächlich nur die Spitze des Betrugs-Eisbergs ist, den wir sporadisch ins Blickfeld kriegen, läuft einiges falsch. Das weit verbreitete Verhalten, „nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ ist natürlich vorab den Ertappten und deren Entourage anzulasten. Doch ist es in der Gesellschaft oft noch die Laisser-faire-Haltung, die Tricksereien und angebliche Kavaliersdelikte grosszügig übersieht.