Der Schweizer Historiker Marco Jorio legt eine grosse Studie über die Schweizer Neutralität vor und meint, deren Zeit sei eigentlich um. Weil aber jeder Versuch ihrer Abschaffung vergebliche Liebesmüh wäre, plädiert er für eine gründliche Sanierung des nationalen Mythos.
Sie ist zwar nicht in aller Leute, aber in aller Politiker Mund, unsere Neutralität, die, wie viele meinen, uns während Hunderten von Jahren Schutz und Schirm geboten habe und daher, wie der Gotthard, für immer und ewig zur Schweiz gehöre. Merkwürdigerweise aber besteht keine Einigkeit darüber, was Neutralität eigentlich ist, wo das Neutralitätsrecht anfängt, wo es aufhört und dem weiten Feld der Neutralitätspolitik Platz macht. Selbst dem Bundesrat, zuständig für die Aussenpolitik, scheinen die Begriffe, wie Autor Jorio durchblicken lässt, mitunter durcheinander zu kommen.
Ein Gang durch Jahrhunderte
Der Leitfaden erscheint also zur rechten Zeit und böte manchen Politikern Nachhilfeunterricht, sofern sie sich Zeit zum Lesen nähmen. Ein Spaziergang ist die Lektüre freilich nicht, immerhin wird der Leser in dichter Abfolge mit einer Unzahl von Eroberungs-, Glaubens- und Erbfolgekriegen, Dutzenden von Krisen und schliesslich zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg konfrontiert, in denen die alten und die jüngeren Eidgenossen die Neutralität stets weiter entwickelten, uminterpretierten, neu adjustierten und sie mit Eigenschaftswörtern wie ewig, immerwährend, bewaffnet, differenziell, integral oder aktiv schmückten, meist improvisierend, oft im Streit, stets am Grundprinzip festhaltend.
Überraschend bei der Reise in ferne Vergangenheiten ist, dass immer wieder Situationen auftauchen, die gewisse Ähnlichkeiten mit topaktuellen Problemen haben. Wenn heute aus der Schweiz Waffen an andere Staaten exportiert werden, macht Bern dem Abnehmer Auflagen im Hinblick auf einen allfälligen Weiterverkauf – siehe das Gerangel um die den Deutschen gelieferte Gepard-Munition. In früheren Jahrhunderten exportierten die Eidgenossen hauptsächlich Söldner, vorzugsweise an Frankreich und (etwas weniger) an Habsburg/Österreich, die sich, zumindest bis zum Renversement des Alliances (1756), sozusagen permanent in den Haaren lagen. Auf dem Humus jenes säkularen Antagonismus der beiden katholischen Grossmächte, so Historiker Jorio, sei die eidgenössische Neutralität entstanden.
Scholz ist nicht Louis XIV.
Die Grossen waren an einer stabilen und neutralen Schweiz interessiert, weil diese die Alpenpässe hütete, den Kriegführenden Flankenschutz bot und über ein zuverlässiges Söldnerpotential verfügte. Die Eidgenossen wiederum zogen manchen Nutzen aus dieser Interessenlage, perkuniär wohl am meisten aus dem Export der Schweizer Regimenter. Umgekehrt handelten sie sich auch viel Ärger ein, hauptsächlich mit Frankreich. Die Söldnerverträge sahen vor, dass Frankreich das helvetische Personal nur für den Verteidigungsfall und jedenfalls nicht für einen Angriffskrieg gegen das Haus Habsburg verwenden durfte.
Im Gegensatz zu Bundeskanzler Scholz, der sich heute brav, wenn auch murrend, an die Auflagen der Schweizer hält, kümmerte sich einst eine Figur wie der Sonnenkönig Louis XIV. nicht darum, was die Tagsatzung im Alpenländchen in die Verträge schrieb. Das führte (im holländischen Krieg, 1672–1678) zu ernsthaften Komplikationen. Nicht nur aussen-, sondern auch innenpolitisch, weil die die katholischen Orte mit Habsburg, die reformierten mit Frankreich das Söldnergeschäft betrieben. Es war dieser Konfliktknäuel, der die Tagsatzung 1674 veranlasste, zum ersten Mal eine formelle Neutralitätserklärung abzugeben. Wenige Jahre später wiederholte sie solche Erklärungen, und beim Pfälzer Erbfolgekrieg (1688–1697) verlangte sie sowohl vom Habsburger Kaiser wie vom französischen König eine formelle Bestätigung, dass sie ihrerseits die Neutralität der Eidgenossen respektierten. Indem Wien und Paris zustimmten, lag, so Jorio, erstmals eine völkerrechtliche Garantie der Neutralität durch kriegführende Mächte vor.
Ein nüchterner Betrachter
Der 72-jährige Marco Jorio, beruflich etliche Jahre als Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS) tätig, im Militär Oberst und Regimentskommandant, politisch in der Mitte (früher bei der CVP, heute der GLP), ist ein klarsichtiger, von keinen Illusionen oder ideologischen Heilslehren «eingenebelter» Betrachter der Zeitläufte – entsprechend nüchtern ist sein Blick auf die Neutralität.
Insofern ist erhellend, wie er beispielsweise die noch heute umstrittene Frage referiert, worin die «wahren» Gründe lagen, aus denen die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs verschont blieb. Die Sicht linker Historiker (Hans Ulrich Jost, Jakob Tanner, Markus Heiniger), die eher ein armee- und neutralitätskritisches Narrativ pflegten und hauptsächlich das wirtschaftliche Zudienen («kriegsgewinnlerisches Trittbrettfahren») oder, wie Heiniger, die kaum vorhandene militärische Bedrohung nannten, teilt Jorio keineswegs. Mit dem Basler Historiker Georg Kreis ist er der Auffassung, dass während des Zweiten Weltkriegs die Neutralität für die Schweiz eine alternativlose und erfolgreiche Überlebensstrategie gewesen sei.
Die Verschonung wurzelte allerdings nicht in diesem abstrakten Begriff bzw. in der Neutralitätsgarantie, die Hitler zu Beginn des Kriegs der Schweiz auf ihr ausdrückliches Verlangen abgab (andern Neutralen gegenüber jedoch bedenkenlos verletzte), sondern, so Jorio, in einer «geschmeidigen Aussenpolitik» (Gute Dienste, offene Alpentransversale, Goldkäufe, konvertibler Franken und auch Rüstungsexporte, die dem Neutralitätsrecht bzw. dem von der Schweiz noch heute hoch gehaltenen Haager Abkommen von 1907, wie der Autor immer wieder betont, nicht entgegenstanden). Als Basis dafür aber, dass der Staat so handeln konnte, wie er es dann auch tat, nennt er: den Widerstandswillen der Mehrheit des Volks, die fast peinliche Beachtung des Neutralitätsrechts und die erstarkende Armee. Ein militärisch leerer Raum, wird Georg Kreis zitiert, wäre schon in den ersten beiden Kriegsjahren von Frankreich oder Deutschland für militärische Operationen benutzt worden.
Der hinfällig gewordene Mythos
Über dem letzten Kapital des Buchs weht so etwas wie ein Hauch salomonischer Weisheit: Alles hat seine Zeit … Für den Autor ist evident, dass die Zeit der Neutralität abgelaufen ist. Entstanden im 17. Jahrhundert während den Konflikten zwischen den Nachbarstaaten, sieht sich unser Land seit 1945 eingebettet in einen Kreis von Ländern mit vergleichbaren Werten. Danach im Kalten Krieg befolgte der Bundesrat, orientiert an der «Bindschedler»-Doktrin, noch immer eine reichlich rigorose Neutralitätspolitik, wobei er sich auf das Risiko berief, das angeblich im «neutralen Riegel» Österreich/Schweiz steckte, einer Art zurückgelagertem Frontstaat zwischen Warschauer Pakt und Nato. Nach 1990 war dann auch die Zeit dieses Arguments abgelaufen.
Die heutige Orientierungslosigkeit i. S. v. Neutralität rührt wohl auch daher, dass in der Praxis unterschiedliche und nicht aufeinander abgestimmte Prinzipien angewendet werden. Jorio nennt die altertümliche Haager Konvention und ihre extensive Interpretation durch den Bundesrat, die UN-Charta, die Kriege (ausser zur Selbstverteidigung) ächtet, ferner das «moralisch-pazifistisch grundierte» Waffenausfuhrrecht, das heute selbst einen Teil der Linken und Pazifisten in Verlegenheit bringt und ratlos lässt, ob und wie die kurz vor Ausbruch des Kriegs in der Ukraine durchgeboxte Verschärfung rückgängig gemacht werden könnte.
Nato statt Neutralität?
Fazit von Jorios Erwägungen: Die Schweiz könnte aufgrund der geopolitischen und völkerrechtlichen Lage die Neutralität ohne Schaden aufgeben. Nur: Könnte unser Land, das auf vielfältigste Weise mit der Welt verflochten ist, plötzlich ohne ihr jahrhundertealtes Gewand, sozusagen nackt, auf dem internationalen Parkett auftreten? Eine «ehrliche Lösung», so Jorio, wäre der Beitritt zur Nato, deren Schutzschirm die Schweiz seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich in Anspruch nimmt. Doch wie der Autor wohl richtig sieht, würden die Schweizerinnen und Schweizer einer solchen Weichenstellung niemals zustimmen.
Gewissermassen als Ersatz für das Unmögliche schlägt er vor, die Neutralität neu zu stricken, und legt dazu gleich ein Strickmuster vor. Seiner Ansicht nach wird die Neutralität, wie einst im Kalten Krieg, mit «zu vielen Aufgaben und vor allem moralischen Ansprüchen überladen». Sie sei jedoch ein völkerrechtliches Institut und nicht dazu da, Demokratie, Menschenrechte oder andere westliche Werte zu verbreiten. Es reiche, wenn sie in Konflikten dem Respekt des Völkerrechts verpflichtet sei, und zwar dem heutigen, nicht jenem von 1907, das Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer verlange, was im Kontext von Waffenlieferungen nicht neutral, sondern moralisch fragwürdig sei. Die hohen Werte der Bundesverfasssung soll die Schweiz durchaus vertreten, aber nicht unter dem Etikett der Neutralität.
Klar ist für Jorio sodann, dass auch eine künftige Neutralität bewaffnet sein muss und die unterfinanzierte Armee wieder mit mehr Mitteln alimentiert werden soll. Und weil ein kleines Land wie die Schweiz allen militärischen Bedrohungen nicht allein entgegentreten könne, müsse es möglichst enge, aber die Neutralitätspolitik nicht kompromittierende Kooperationen mit den Nachbarländern bzw. der Nato suchen. Ein Anliegen, für das auch VBS-Chefin Amherd ein offenes Ohr zu haben scheint.
Gegenmodell zu Blochers «Putin»-Initiative
Einer der zentralsten Punkte in Jorios Strickmuster betrifft indes die «geradezu sklavische Abhängigkeit» vom dysfunktionalen UN-Sicherheitsrat. In einem Konflikt, in dem der Sicherheitsrat das Mandat für eine Intervention erteilt hat, gibt Bern – beispielsweise für Transit- oder Überflugrechte – in aller Regel ohne Umschweife grünes Licht. Nicht so jedoch, wenn als Folge eines Vetos kein Mandat vorliegt. In diesen (leider) häufigen Fällen beruft sich der Bundesrat auf das Neutralitätsrecht, d. h. die erwähnte Haager Konvention. Damit, so Jorio, mache sich die Schweiz abhängig von den Vetomächten, «was umso stossender ist, wenn es sich um Diktaturen oder, noch schlimmer, um den zu verurteilenden Aggressor handelt.»
Genau diese Abhängigkeit wollen alt Bundesrat Blocher und seine isolationistischen Anhänger in der Verfassung festschreiben. Ihre Neutralitätsinitiative verlangt: Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Konflikten zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind einzig Verpflichtungen gegenüber der Uno.
Wäre dieser Vorschlag bereits geltendes Recht, hätte die Schweiz nach Ausbruch des Ukrainekriegs gegen Russland keine Sanktionen verhängen können, da keine entsprechende Verpflichtung seitens der Uno vorlag und ihr die Verfassung eigene Sanktionen verböte. Jorio kommentiert diesen Sachverhalt so: «Wie 1937, als die Rechtsbürgerlichen mit ihrem Initiativprojekt den Aggressor Mussolini schonen wollten, so soll der Aggressor Putin vor Sanktionen bewahrt werden.» Das Begehren sei daher nichts anderes als eine moralisch höchst fragwürdige «Pro Putin-Initiative», weil sie den Aggressor unterstütze, der gegen die Werte und Interessen unseres Landes die internationale Ordnung umstürze.
Die Magie des Unfertigen
Kunstbetrachter reden zuweilen von der Magie des Unfertigen, weil das Unfertige die Fantasie anregt, kreative Denkprozesse in Bewegung setzt und neue Blickwinkel aufzeigt. Die Schweizer Neutralität ist auch eine Art Kunstwerk, ein für allemal «fertig» war sie nie und wird es nie sein. Daran, dass sie heute neu auszumessen ist, gibt es kaum Zweifel. Die Absicht des Blocher-Lagers, die Schweiz in ein enges, die Handlungsspielräume behinderndes Neutralitätskorsett zu stecken, hätte verheerende Folgen. Man stelle sich nur den Druck von allen Seiten und die Reaktionen vor, wenn unser Land sich in hässlichsten Konflikten damit begnügte, dem Geschehen Schulter zuckend zuzuschauen und bestenfalls den Courant normal zu pflegen.
In den anstehenden Debatten darüber, wie unsere alte Maxime intelligent saniert werden könnte, sind kreatives Denken und offene Blicke unentbehrlich. Auch wenn man mit Jorios Erwägungen nicht in allen Punkten einverstanden sei mag – seine hervorragend dokumentierte und dazu flüssig geschriebene Neutralitätsgeschichte kann dabei unbestreitbar als solide Leitplanke dienen.
Marco Jorio: Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte. Verlag Hier & Jetzt, 500 Seiten, CHF 49.00