So lange hat eine Regierungsbildung in Nachkriegsdeutschland noch nie gedauert. Nahezu ein halbes Jahr! Die dazu extra befragten sozialdemokratischen Parteimitglieder haben ihren Ober-Genossen die Erlaubnis erteilt, allen Bedenken, Sorgen und Ärgernissen zum Trotz doch wieder ein Bündnis mit Angela Merkel und der CDU/CSU einzugehen. Jetzt ist in Berlin also die politische Ampel erneut auf Grün geschaltet. Um ganz genau zu sein – es waren 239’604 Genossen, die während der vergangenen Tage den Schalter auf Fortsetzung der so genannten Grossen Koalition stellten. Und das, wiederum, waren 66,02 Prozent der gültigen 363’494 Stimmen. Im hörbaren Aufatmen der Strategen im Willy-Brandt-Haus ging freilich eine andere Zahl fast unter. 123’329 votierten nämlich gegen den unlängst ausgehandelten Koalitionsvertrag. Und das ist (umgerechnet 33,98 Prozent) immerhin ein Drittel der Partei.
Eine Zäsur vollzieht sich
Was sich während der vergangenen Monate auf der deutschen Politbühne abgespielt hat, kann ganz sicher nicht einfach unter der Rubrik „übliches Parteiengeschacher nach Wahlen“ abgelegt werden. Sowohl Politik als auch Gesellschaft spüren, dass sich in diesen Zeiten eine Zäsur vollzieht. Dass die Menschen Entwicklungen und Veränderungen in einer bis dahin noch nicht gekannten Rasanz erleben und bewältigen müssen. Und dies, ohne auf bewährte Rezepte und liebgewonnene Rituale zurückgreifen zu können. Die Freude und Erleichterung über das Ende des Kalten Krieges und des Ost/West-Gegensatzes währte nur kurz. Stattdessen erlebt man seit geraumer Zeit neue, nicht weniger bedrohliche Herausforderungen – Kriege und Hunger setzen Millionenheere von Flüchtlingen in Bewegung, Terroristen schlagen blindwütig zu, daheim geraten Glaube und Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme ins Wanken, Heilsverkünder an den politischen Rändern werfen – erfolgreich – mit scheinbar einfachen Lösungen für komplizierte Probleme Köder aus.
Das für die so genannten Traditionsparteien (vor allem jene, die sich als „Volksparteien“ sehen) verheerende Ergebnis der Bundestagswahl im vorigen September war, fraglos, Ausdruck dieser Situation. Natürlich hatte es auch „handwerkliche“ Fehler gegeben, mangelnde „Kommunikation“ und was sonst noch alles als Erklärung für die Abstürze sowohl der SPD als auch der Merkel-Union herangezogen werden mag. Aber die Ursachen liegen tiefer. Sie wirken eher auf das Gefühl, als dass sie immer faktisch zu begründen wären. Und in diesem, sich immer tiefer eingrabenden, Gefühl der zu Ängsten führenden Richtungslosigkeit hat die „gewohnte“ Politik, haben also die Parteien ihre Funktion als stabilisierende Anker verloren. Das gilt für die konservative Seite nicht minder als für die Sozialdemokratie. Hier wie dort wurden – meistens sogar ohne Vorwarnung (soll heissen: Diskussionen) – wichtige Wegweiser abmontiert oder in ihren Fundamenten gelockert. Beispiele: Abschaffung der Wehrpflicht oder plötzliche Kehrtwende in der Kernenergie-Politik bei CDU/CSU und massive Forderung nach Familiennachzug für Kriegsflüchtlinge, ungezählte Initiativen für Multikulti-Antidiskriminierung auf der Koalitionslinken. Die guten Absichten und das damit verbundene gute Gewissen – unbestritten. Aber am Lebensgefühl der Bürger und den täglichen Notwendigkeiten ging und geht das halt weit vorbei.
Den Selbstmord vermieden
Und nun? Die – nach dem Rücktritt des vor einem Jahr als Messias gefeierten und als Kanzlerkandidat krachend gescheiterten Martin Schulz – im Moment amtierende SPD-Führung um die Parteichefin in spe Andrea Nahles und den Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz hat mit dem Koalitions-Ja der „Basis“ einen Etappensieg erreicht. Einen wichtigen, kein Zweifel. Aber auch nicht mehr. Denn die Zweidrittel-Mehrheit gibt ja noch keine Auskunft darüber, wie viele Genossen nur mit äussersten Bauchgrimmen zugestimmt haben. Ihre innere Distanz zu dem Unternehmen GroKo (Grosse Koalition) wird sich ganz sicher nicht so schnell in Wohlwollen umwandeln. Und dann wären da auch noch jene Realisten, denen sehr bald klar war, dass die von den Jungsozialisten und der Parteilinken propagierte Regierungs-Verweigerung mit einem Marsch in die Opposition einem politischen Selbstmord der SPD gleichgekommen wäre. Denn Neuwahlen (in der Konsequenz des unvermeidlichen Scheiterns eines jeglichen Minderheiten-Experiments) hätten fraglos in den Augen weiter Gruppen die Unfähigkeit der traditionellen politischen Kräfte erwiesen, das Land noch zu führen. Mit der Folge, dass die extremen Ränder weiteren Zulauf erführen.
Jetzt schallt es aus allen Koalitionswinkeln: „Erneuerung“! Und: „Wir haben verstanden“! Und schliesslich: „Kein Weiter-so“! Das klingt nach Aufbruch. Aber wer nach dem „Wohin“ fragt, wartet vergeblich auf Antwort. Die SPD verspricht, ihr Profil stärker zu zeigen. Na dann mal los! Es stimmt ja, dass die 177 Seiten der Koalitionsvereinbarung ein deutliches sozialdemokratisches Übergewicht ausweisen. Das war aber in der vorigen Wahlperiode genauso. Doch es kam in der Öffentlichkeit nicht an. Und zwar nicht, weil Neider den Sozis das nicht vergönnten. Sondern, weil diese es selber waren, die stets als erste ihre Erfolge kritisierten. Mal sehen, ob sich das jetzt ändert. Und dann – „Erneuerung“. Das ist bis jetzt nichts anderes als ein Begriff, hinter dem sich viele vielleicht manches vorstellen. Die SPD, sagen die einen (vor allem die Linken), müsse inhaltlich wieder zu ihren Wurzeln finden, sich als Vertreter der arbeitenden Bevölkerung erkennen lassen. Aber die Herausforderungen der Zukunft lassen keine nostalgische Vergangenheits-Sehnsucht zu.
IT und nicht mehr Dampfmaschinen
Wer sieht, mit welcher Brachialgewalt und ohne jede Rücksicht auf Menschen Länder wie China in Richtung technologische Führerschaft in dieser Welt marschieren, den kann es schon grausen. Aber das ist Realität. Und der muss sich ein Industrieland wie Deutschland stellen. Das muss ernsthaft und, wenn nötig, auch streitig diskutiert werden: Wirtschaftspolitik, Beschäftigung, Sozialsysteme, die Rente, Gesundheit usw. usw ... Kein Mensch kann heute sagen, welche Auswirkungen Digitalisierung und Globalisierung möglicherweise schon in wenigen Jahren auf den Arbeitsmarkt haben werden. Nur eines ist sicher – das Zeitalter der Dampfmaschinen hat keine Antworten darauf. Aber Deutschland braucht eine stabile, verlässliche Politik. Für sich selbst und den inneren Bereich. Aber auch in der Partnerschaft Europas. Schliesslich sind die Zeiten nicht rosig. Mit dem unberechenbaren US-Präsidenten Trump auf der einen und dem in Richtung neuer Weltmacht aufrüstenden Putin auf der anderen kann sich das verfasste Europa den Luxus nationaler bis nationalistischer Zersplitterungen nicht leisten – will es nicht in Bedeutungslosigkeit versinken.
Mögen die Berliner Politstrategen und ihre Gefolgschaften im Lande also weiter von „Erneuerung“ sprechen, so ist doch in Wirklichkeit eher Götterdämmerung angesagt. Zum Beispiel für Angela Merkel. Ihren eigenen Worten zufolge, will sie diese Legislaturperiode noch zu Ende regieren. Ob sie das schafft, steht in den Sternen. Oder besser: hängt davon ab, ob die fragile Neuauflage der Koalition mit der SPD nicht vorher zerbricht. Dennoch ist es immer wieder verblüffend, welche „Kaninchen“ diese Frau bei Bedarf aus dem Zauber-Zylinder hervorholt. Etwa mit dem Geniestreich, völlig unerwartet die bisherige saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer als neue CDU-Generalsekretärin zur Parteimanagerin zu machen und gleich auch noch ihre ministerielle Mannschaft vorzustellen. Und damit sozusagen Handlungsfähigkeit in einer krisenhaften Situation zu demonstrieren, in der die SPD noch in Schockstarre dem Ergebnis ihrer Mitgliederbefragung entgegenharrte. Mit diesem Manöver hat Merkel sowohl die zuletzt immer lauter und zahlreicher gewordene Schar ihrer Kritiker neutralisiert als auch die Richtung zumindest angedeutet, wie sie das „nach mir“ steuern möchte.
Nur wenig Zeit zum Handeln
Erneuerung und Reformen hier, das Tagesgeschäft dort. Wie wollen die neuen/alten Bündnispartner das bewältigen? Ein halbes Jahr von der aktuellen Wahlperiode ist durch das politische Tohuwabohu nach der Bundestagswahl bereits vergangen. Man kann getrost auch sagen: verloren. Bleiben – theoretisch – noch dreieinhalb Jahre. Aber eben nur theoretisch. Denn am Ende steht ja wieder ein wochenlanger Wahlkampf an. So dass für eine konzentrierte Regierungsarbeit maximal drei Jahre zur Verfügung stehen werden. Wenn auch nur die wichtigsten Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt werden sollen, müssten vom Kanzleramt bis zum letzten Ministerium alle Beteiligten praktisch Tag und Nacht arbeiten. Und dann hat die SPD-Führung auch noch ihrer Basis versprochen, in zwei Jahren innerparteilich und regierungsamtlich Bilanz zu ziehen. Neue Mitgliederbefragung nicht ausgeschlossen. Wahrscheinlich am 14. März wird Angela Merkels neue Regierung vereidigt. Es ist ein Neustart. Ins Ungewisse.