Susanne Peter-Kubli, Interesse an seelischer Brüchigkeit. Carl Gehry (1881-1962) Psychiater in der Klinik Rheinau, Chronos-Verlag, Zürich 2013
Emanuel La Roche, „Doctor, sieh mich an!“. Der Basler Arzt Hermann Christ auf medizinischer Mission in der Osttürkei 1898-1903, Chronos-Verlag, Zürich 2013
Vor fünfzig Jahren war das Medizinhistorische Institut der Universität Zürich im Turm der Hochschule untergebracht, und man erreichte es nach langem Treppensteigen in erschöpftem Zustand. In engen Räumen stapelten sich die Dokumente und Objekte der wertvollen medizinhistorischen Sammlung, welche die Universität 1932 vom Zürcher Arzt Gustav Adolf Wehrli erworben hatte.
Wertvolle persönliche Aufzeichnungen
Direktor des Instituts war zwischen 1957 und 1971 Professor Erwin H. Ackerknecht, ein international hochberühmter Gelehrter und eine markante Persönlichkeit. Ackerknecht war in Stettin geboren, hatte Medizin studiert und Hitler-Deutschland als Emigrant verlassen. Nach schwierigen Jahren des Exils wurde er Professor für Medizingeschichte in Madison (Wisconsin). Im Jahre 1957 wurde er nach Zürich berufen. Hier entfaltete Ackerknecht eine fruchtbare Forschungstätigkeit und empfing in seinem Turm Gelehrte aus aller Welt. Niemand konnte damals ahnen, in welch pitoyabler Verfassung sich sein Institut heute präsentieren würde.
Die Turbulenzen am Medizinhistorischen Institut verhindern freilich nicht den Fortgang der Forschung. Dies zeigen zwei bemerkenswerte Publikationen, die erst kürzlich erschienen sind. Susanne Peter-Kubli legt unter dem Titel „Interesse an seelischer Brüchigkeit“ eine Biografie des in der psychiatrischen Klinik Rheinau tätigen Arztes Karl Gehry (1881-1962) vor, und Emanuel La Roche beschreibt unter dem Titel „Doctor, sie mich an!“ die Tätigkeit des Basler Arztes Hermann Christ in der Osttürkei 1898-1903. In geographischer Hinsicht liegen die beiden Themen weit auseinander. Beiden Autoren aber ist gemeinsam, dass sie sich auf wertvolle persönliche Aufzeichnungen der betreffenden Ärzte stützen können.
Wichtiger Beitrag zur Medizingeschichte
Karl Gehry hat seine Lebensgeschichte in fortgeschrittenen Jahren aufgezeichnet, nachdem er als Direktor der Pflegeanstalt Rheinau zurückgetreten war und in Rheinau eine Praxis übernommen hatte. Susanne Peter-Kubli macht uns diese interessante Quelle, im handschriftlichen Original weit über tausend Seiten, in sinnvoll gekürzter Form zugänglich. Ausgewählte Passagen werden im Wortlaut zitiert und in den geschichtlichen Zusammenhang gestellt. Es entsteht das plastische Bild einer verantwortungsbewussten Persönlichkeit, die als Arzt, Familienvater, Staatsbürger und Sanitätsoffizier vielerlei Aufgaben wahrnahm, ohne sich den vergnüglichen Seiten des Lebens zu verschliessen.
Eine wissenschaftliche Kapazität war Gehry nicht, aber er begegnete seinen Patienten mit viel Verständnis, und sie scheinen ihn sehr geschätzt zu haben. Die Psychiatrie machte damals dank Schweizer Forschern wie Auguste Forel und Eugen Bleuler grosse Fortschritte, und man bedauert etwas, dass die Autorin nicht näher auf diesen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund eingegangen ist; Erwin Ackerknechts noch immer lesenswerte „Kurze Geschichte der Psychiatrie“ hätte ihr dabei gute Dienste leisten können. Dies schmälert nicht den Wert eines flüssig geschriebenen und schön illustrierten Buches, das einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Medizingeschichte, sondern auch zur Sozialgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert darstellt.
Aufmerksamer und zuverlässiger Beobachter
Die Hauptquelle für das Buch von Emanuel La Roche stellen die 134 Briefe dar, die der Basler Arzt Hermann Christ aus der türkischen Stadt Urfa an seine Eltern schrieb. Christ weilte zwischen 1898 und 1903 in dieser Stadt und leitete dort ein Spital der „Deutschen Orient-Mission“, einer christlich-philanthropischen Gesellschaft, die ihren Sitz in Berlin hatte. Seine Aufgabe bestand in der medizinischen Betreuung der ethnisch gemischten Bevölkerung einer verarmten Provinzregion, in der kurz zuvor ein Pogrom stattgefunden hatte, das 3000 armenischen Christen das Leben kostete.
Hermann Christ war ein aufmerksamer und zuverlässiger Beobachter, und seine Korrespondenz vermittelt ein anschauliches und glaubwürdiges Bild von seiner Tätigkeit. Er ist bemerkenswert frei von rassistischen Vorurteilen und versteht es, allmählich das Vertrauen von Armeniern, Türken, Arabern und Kurden zu gewinnen. Während eines Heimaturlaubs lernte Christ in Basel seine Frau Berta Werner kennen, die mit ihm zusammen in die Türkei zurückkehrte. Auch Berta schrieb Briefe, die erhalten sind und die Emanuel La Roche ebenfalls auswertet. Berta Christ ist von der Überlegenheit abendländischer Kultur überzeugt und urteilt spontaner und kritischer als ihr Ehemann. Die schwere Krankheit seiner Frau zwang Christ bereits 1903 zur Rückkehr in die Schweiz, wo er eine Landarztpraxis übernahm.
Ackerknechts Lachen
Emanuel La Roches mit zahlreichen zeitgenössischen Fotos illustriertes Buch beleuchtet einen interessanten Aspekt christlich-humanitärer Entwicklungshilfe zu einer Zeit, da der Genozid an den Armeniern seinen Schatten vorauswarf und die weltpolitische Lage von militantem Imperialismus geprägt war. Besonders wertvoll ist das Schlusskapitel des Buches, das über die Finanzierung des Spitals in Urfa durch gutbürgerliche Basler Familien berichtet.
Doch nochmals zurück zu Professor Erwin Ackerknecht. Sein Naturell, aber auch der ungezwungene Umgang mit Studenten wie Kollegen, den er sich in den USA angeeignet hatte, machten ihn in Zürich zum Original. Nicht selten irritierten sein herzhaftes Lachen und sein Humor die Kollegen - in einer Zeit, als das Erscheinungsbild des Schweizer Professors vom deutschen Vorbild des würdigen und etwas steifen Gelehrten geprägt war. Heute möchte man dem Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich Ackerknechts Lachen wieder zurückwünschen und ebenso die internationale Ausstrahlung, die das Institut zu seiner Zeit besass.