In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag haben amerikanische Flugzeuge arabische Truppen der SDF („Syrische Demokratische Kräfte“) in der Nähe von Tabqa hinter die Verteidigungslinien des IS transportiert, so dass diese Truppen ihre Feinde von hinten angreifen konnten.
Kampf um Tabqua
Die SDF-Truppen meldeten, sie hätten die IS-Kämpfer überrascht und vier Dörfer nahe bei Tabqa erobert. Tabqa ist die zweitgrösste Ortschaft der Provinz Raqqa. Raqqa ist die Provinzhauptstadt.
Tabqa-Damm wird der Staudamm des Euphrat genannt, der einen gewaltigen Stausee abschliesst, dessen Rückstau fast bis an die türkische Grenze hinaufreicht. Früher wurde der Stausee Asad-See genannt, nach dem Vater des gegenwärtigen Asad, unter dem der Damm mit sowjetischer Hilfe erbaut worden war. Im Ort Tabqa gibt es einen Militärflugplatz und auch ein Gefängnis, in dem dem Vernehmen nach der IS wichtige Geiseln hält.
Militärisch gesehen ist Tabqa eine Art vorgezeogene Festung von Raqqa. Mehrere Hundert meist ausländische Jihadisten sollen diese halten. Im Augenblick geht es darum, dieses befestigte Zugangstor nach Raqqa einzunehmen, bevor die eigentliche Belagerung der Hauptstadt des IS in Syrien beginnen kann.
Der amerikanische „Airlift“ für SDF-Kämpfer
Es ist das erste Mal, dass US-Flugzeuge für einen solchen Lufttransport syrischer Kämpfer eingesetzt wurden. Die Aktion scheint glatt verlaufen zu sein. Die Transporthelikopter wurden von Kampfjets begleitet. Die Amerikaner meldeten, keines ihrer Flugzeuge sei zu Schaden gekommen.
Es handelt sich um einen kleinen, aber bedeutungsvollen Schritt voran beim Engagement der Amerikaner im syrischen Krieg. Die arabischen Krieger der SDF, die auf diesem Weg hinter die Linien des IS gebracht wurden, gehören zu einer Truppe, die von den syrisch-kurdischen Kämpfern der YPG aufgestellt und ausgebildet wurde. Die Amerikaner spielten dabei auch eine Rolle. Sie lieferten Waffen und sie bestanden darauf, dass diesen Truppen nicht nur syrische Kurden, sondern auch arabische Einheiten angehören sollten. Denn es geht bei der Befreiung von Raqqa vom IS um eine arabische, nicht eine kurdische Stadt.
Sind die SDF nur eine Spielart der YPG?
Doch ist es ein offenes Geheimnis, dass in den SDF die kurdischen YPG die Hauptrolle spielen. Sie bestimmen die Taktik und Strategie und haben auch bei der politischen Zielsetzung das erste Wort. Von den Amerikanern lassen sie sich beraten und soweit irgend möglich bewaffnen und besser ausrüsten.
Sie haben auch die Luftunterstützung der Amerikaner, genauer gesagt: der Koalition vieler Staaten, welche die Amerikaner für den Kampf gegen den IS zusammengebracht haben. Man kann vermuten, dass die Kurden Raqqa nicht auf Dauer behalten wollen, wenn es von „ihren“ SDF erobert wird. Die Stadt kann ihnen als als Unterpfand dienen, wenn es einmal darum geht, die künftige Verfassung eines neu erstehenden Syriens auszuhandeln. Raqqa könnte in diesem Fall der Regierung von Damaskus angeboten werden, um als Gegenleistung das Zugeständnis einer autonomen Zone, schon heute „Rojawa“ genannt, für die syrischen Kurden, entlang der türkischen Grenze, zu fordern.
Das Gebiet von „Rojawa“ befindet sich bereits fast vollständig im Besitz der kurdischen Kämpfer der YPG. Doch „Rojawa“ ist ein Rotes Tuch für Erdogan. Er selbst und auch viele seiner Militärs befürchten, eine solche kurdische Autonomie, direkt an der langen türkischen Südgrenze, würde der türkischen PKK eine weite Rückzugs- und Ausgangsbasis bieten.
Türkische Schritte gegen die Kurden
Mit der PKK steht die offizielle Türkei seit 1984 in einem grausamen asymmetrischen Krieg, in dem sie es mit Guerillakämpfern zu tun hat. Unter Erdogan hatte es zwischen 2013 und 2016 kurze Jahre der Friedenssuche mit der PKK gegeben, doch dann war der Krieg mit erneuter Brutalität wieder ausgebrochen.
Um der Bildung eines „Rojawa“ zuvorzukommen, ist die türkische Armee mit von ihr unterstützten syrischen Hilfstruppen über die Grenze auf syrisches Gebiet vorgedrungen und hat in Nordsyrien den Landstrich besetzt, der zwischen zwei Kurdengebieten an der türkischen Grenze offen geblieben war. Ursprünglich hatten die syrischen Kurden versucht, diesen zu erobern, um die beiden bereits von ihnen beherrschten Grenzprovinzen, Kobane im Osten und Afrin im Westen, zusammenzuschliessen. Die noch offenen Gebiete befanden sich in der Hand des IS, und die türkische Armee, in Zusammenarbeit mit syrischen SFA Kämpfern (Syrische Freie Armee), hat sie dem IS entrissen.
Die USA zwischen Türken und Kurden
Ankara sieht die PKK, die YPD und die SDF als unterschiedliche Label der gleichen kurdischen Kräfte an. Dies ist nicht ganz unbegründet. Die PKK hat entscheidend mitgeholfen, die syrischen YPD aufzustellen, zu bewaffnen und zu motivieren, und die YPD wurden die Väter der SDF, indem sie ihre eigenen Kräfte mit denen der arabischen Mitkämpfer kombinierten.
Die Amerikaner schauen auf eine relativ lange Zeit der Zusammenarbeit mit den syrischen Kurden zurück. Diese begann 2014, als die kurdische Stadt Kobane, direkt an der türkischen Grenze, vom IS teilweise erobert wurde und sich verzweifelt gegen die IS-Kämpfer zu Wehr setzte. Die Amerikaner beschlossen damals, ihren Luftkrieg gegen den IS, der im Irak begonnen hatte, auf Syrien auszudehnen und den Kurden in Kobane zu Hilfe zu kommen. Ihre massiven Luftschläge in und rund um Kobane trugen entscheidend dazu bei, im Januar 2015 den Sieg der Kurden herbeizuführen und den IS aus Kobane und seiner Umgebung zurückzuschlagen.
Schon damals blickte die türkische Regierung unter Präsident Erdogan widerwillig auf den kurdischen Erfolg. Sie hatte es den türkischen Kurden untersagt, ihren Landsleuten jenseits der syrischen Grenze zu Hilfe zu kommen, und die türkischen Kurden innerhalb der Türkei demonstrierten aufgebracht gegen dieses Verbot. Am Ende liess Ankara zu, dass irakische Kurdenkämpfer, Peschmerga, durch die Türkei nach Kobane reisten, um dort den Kurden gegen den IS zu Hilfe zu kommen. Doch die damals entstandenen Spannungen um Kobane trugen mit dazu bei, dass ein Jahr später der türkisch-kurdische Friedensprozess endgültig abbrach und der türkische Krieg gegen die PKK von neuem begann.
Wenig Chancen für die türkischen Syrienpläne
In der gegenwärtigen Lage hat Ankara den Amerikanern mehrmals zu erkennen gegeben, dass die türkischen Truppen bereit wären, mit den ihnen zuneigenden syrischen Hilfskräften gegen den IS in Raqqa zu kämpfen. Allerdings unter der Bedingung, dass Washington die syrischen Kurden und „deren“ SDF fallen lasse.
Eine gewisse Hoffnung hatte in Ankara darin bestanden, dass Präsident Trump auf diesen Plan eingehen könnte. Vielleicht, um es anders zu machen, als es Obama eingeleitet hatte, so sagte man sich in Ankara. Doch der amerikanische „Airlift“ für die SDF ist ein sehr deutliches Zeichen, dass die Amerikaner nicht gewillt sind, mitten in dem bereits begonnenen Feldzug gegen Raqqa gewissermassen das Pferd zu wechseln. Sie werden fortfahren, die den Kurden nahe stehenden SDF zu stützten, bis Raqqa genommen sein wird. Für Erdogan wird dies ein Grund mehr dafür sein, sich von Washington ab- und Moskau zuzuwenden.
Koalitionsversammlung in Washington
Wie die Trump-Verwaltung in Washington die syrische Karte zu spielen gedenkt, ist offenbar noch nicht ganz ausgemacht. Aussenminister Rex Tillerson hat in Washington Vertreter jener 68 Staaten zusammengerufen, die sich als zugehörig zur grossen Koalition gegen den IS erklärt haben. Die letzte Zusammenkunft dieser Art war 2014. Einige Teilnehmer sind aktiv an den Luftaktionen beteiligt.
Der neue Aussenminister machte klar, dass Washington beabsichtigt, in erster Linie gegen den IS vorzugehen. Dies solle und werde nun energischer geschehen, als es unter Obama der Fall war. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass die amerikanischen Spezialeinheiten im Irak und in Syrien tatsächlich Weisungen erhielten, energischer einzugreifen. Offenbar wurden die Einschränkungen aufgehoben oder reduziert, die unter Obama für die amerikanischen Militärberater, Ausbilder, und Fachkräfte bestanden. Sie dürfen nun näher an die Front und im Notfall direkter als früher eingreifen. Die Zahl dieser „Spezialisten“ wurde erhöht. Die „Marines“ verfügen bei Raqqa jetzt über eigene Artillerie. Zum ersten Mal sind damit amerikanische Landtruppen auch in Syrien, nicht nur im Irak aktiv.
Kein neues Konzept der USA
Tillerson forderte zudem die Koalitionspartner auf, darüber nachzudenken, wie auch sie ihren Einsatz verstärken könnten. Tillerson sprach vage von der Schaffung von befriedeten Zonen in Syrien; er nannte sie „Schutzzonen für den Übergang“. Die geflohene Bevölkerung soll dahin zurückkehren können. Doch den entscheidenden Punkt liess er offen, nämlich die Frage, ob und von wem diese Inseln im Ernstfall gegen die Truppen Asads verteidigt und gehalten würden. Dies ist ein auch für die Amerikaner besonders heikler Punkt, weil die Iraner und die Russen hinter Asad stehen.
An den Ausführungen des Aussenministers lässt sich erkennen, dass die Trump-Regierung bisher kein neues Konzept für ihre syrische Politik entwickelt hat. Sie macht einfach auf der Linie Obamas weiter, nur dass sie energischer auftritt. Kenner der syrischen Verwicklungen – wie der akademische Syrienexperte der Universität Indiana, Joshua Landis – geben zu bedenken, dass die Konzentration der Trump-Regierung auf den IS und dessen geplante „Vernichtung“ drohe, die viel weiteren Zusammenhänge in der Syrienfrage aus den Augen zu verlieren.
Syriens Bedeutung für den Nahen Osten
Syrien ist in der Tat heute zu dem Streitobjekt der Welt- und Regionalpolitik geworden, dessen Verlust oder Beherrschung wahrscheinlich die Vormacht über den Nahen Osten bestimmen wird. Dies ist der Fall, weil die Zugehörigkeit Syriens zur schiitischen oder zur sunnitischen Seite im Streit zwischen Iran und Saudi-Arabien über dieses Ringen entscheiden wird. Aber auch weil das Ringen zwischen der Türkei und den Kurden in Syrien entschieden werden dürfte, und weil ebenfalls die Vorrangstellung der USA oder der Russen in der gesamten Region davon abhängen wird, wer in Syrien das Sagen erhält.
Russland und die USA müssten Kompromisse finden, wenn ein künftiges Syrien eine Chance erhalten soll, als ein in sich geeinigter Nationalstaat neu aufzuleben. Die Vernichtung des IS allein, die in der Tat bevorstehen dürfte, wird dieses Resultat nicht erbringen. Wenn das Seilziehen der Aussenmächte um Syrien andauert, und Syrien ein zerbrochener und zerstückelter Staat bleibt, besteht vielmehr die Gefahr, dass radikale Jihadisten von der Art des IS oder der Nusra-Front die Unruhe ausnützen können, um ihre Macht erneut auszudehnen.