Steffan de Mistura, der neue Sonderbeauftragte des Sicherheitsrates für Syrien, hat begonnen, für seinen neuen Schlichtungsplan für Syrien zu werben. Er will lokal vorgehen, indem er vorschlägt, die Fronten an einzelnen Kampfplätzen "einzufrieren", wobei die lokalen Kampfgruppen die ersten Feuereinstellungen aushandeln sollten. Dies sollte sich schrittweise über Syrien ausdehnen.
"Eingefrorene Zonen"
Staffan De Mistura befindet sich auf seiner zweiten Reise durch Syrien. Er und der Sicherheitsrat wollen versuchen, nicht wie zuvor vergeblich einen Waffenstillstand für ganz Syrien zustande zu bringen, sondern vielmehr "eingefrorene Zonen" zu schaffen, in denen die Kämpfe stillstehen sollen. Diese, so hofft man, würden sich ausdehnen und so die Lage schrittweise stabilisieren.
Dann müssten Verhandlungen stattfinden, um die endgültige politische Lage und Machtverteilung in den befriedeten Teilgebieten des Landes auszuarbeiten. De Mistura hofft, dass dieser schrittweise Lösungsansatz Erfolg haben könnte, weil durch die Präsenz von IS im Lande und den Luftkrieg, den die USA und die Europäer, sowie die Golfstaaten gegen IS führen, eine neue Gesamtlage in Syrien eingetreten ist.
Viele Kampfgruppen, jede mit eigenen Zielen
Es gibt heute nicht nur zwei Kriegsparteien: Regierung und Aufständische, auch nicht bloss drei: Regierung, Aufständische, radikale Islamisten. Nun sind es mindestens vier geworden: Regierung, Aufständische, IS, Allianz gegen den IS mit seinen Flugzeugen. Man kann aber auch von fünf Parteien sprechen, falls man berücksichtigt, dass IS und Nusra Front nach wie vor auch gegeneinander Krieg führen. Dies ist nicht völlig gewiss, es scheint, dass die beiden in Teilen von Syrien koexistieren, in anderen Teilen jedoch einander noch immer bekriegen.
Dazu kommt der Irak
Natürlich kommen noch mehr Kriegsparteien hinzu, wenn man den Irak mit einbezieht. Dann muss man auch, als sechste und siebte Kriegspartei, die irakische Armee und die irakischen Kurden mitrechnen. Als achte Kampfpartei kann man auch die weitgehend vom Iran beaufsichtigten, eingesetzten und gelenkten irakischen Schiitenmilizen aufzählen und als neunte, wenn man will, die sunnitischen Stämme des Iraks, die versuchen, sich gegen die Oberherrschaft vom IS zu erheben, aber sich weigern, mit den "schiitischen" Sicherheitskräften des Iraks zusammenzuarbeiten. Um die Zahl voll zu machen, gibt es als zehnte Kampfpartei noch die syrischen Kurden der DYP, die in Kobane nach wie vor gegen IS kämpfen. Manche dieser Gruppen haben gemeinsame Feinde, doch jede verfolgt ihre eigenen politischen Zielsetzungen.
Auf Syrien ausgerichtet
Doch zunächst geht es um die Zukunft Syriens. Päsident Assad, den De Mistura soeben besucht hat, liess erklären, er erachte es als der Mühe wert, den Plan des Sicherheitsrates zu bedenken. Das ist immerhin keine Ablehnung. Bei Assad wie bei allen anderen Beteiligten hängen die Chancen des Planes davon ab, wie sie ihre eigenen Aussichten, einen vollen Sieg zu erringen, abschätzen. Assad kann sich sagen, dass diese Chancen für ihn besser stehen als vor dem Eingreifen der Amerikaner gegen den IS.
Die Sorge um den IS ist nun Sache der Amerikaner geworden. Assad kann seine Truppen darauf konzentrieren, um jene Landesteile zu kämpfen, die unter der Herrschaft der verschiedenen Rebellengruppen stehen: in Aleppo, in der Bergprovinz Idlib, im Zentrum des Landes rund um Homs herum, in den Vororten von Damaskus und im Süden an der Golan Grenze. Der Widerstand nah bei Damaskus ist weitgehend gebrochen, und auch die Stadt Homs befindet sich voll in Händen der Regierung.
Fassbomen
Die Regierungsarmee ist im Begriff, Aleppo einzukreisen und von seinen letzten Verbindungen in Richtung Norden, und damit auch von der Grenze nach der Türkei, abzuschneiden. Aleppo sebst ist geteilt. Die von den Rebellen beherrschte Hälfte wird in der letzten Zeit täglich mit "Fassbomben" angegriffen, die aus Helikoptern und Flugzeugen der Armee abgeworfen werden. Diese sind mit Sprengstoff gefüllte Petrolkanister, die beim Aufprallen explodieren und ganze Häuser zerstören können. Die Häuser sind immer noch von jenen Teilen der Bevölkerung bewohnt, die nicht die Mittel besassen, nach der Türkei zu fliehen. Die Fassbomben töten daher in erster Linie Zivilisten. Zweck der Bombardierungen dürfte sein, die von den Rebellen gehaltenen Quartiere so weit wie möglich zu entvölkern, um die Bewaffneten der Infrastruktur zu berauben, die sie ernährt und am Leben hält.
Wenn die volle Abschnürung gelingt, dürfte eine Belagerung einsetzen, in der - wie im Falle vieler der lange umkämpften Vororte von Damaskus - der Hunger als Kriegswaffe dient. In Aleppo gibt es noch eine Zusammenarbeit der verschiedenen Kriegsgruppen der Rebellen; dort führen sie untereinander nicht Krieg.
Aleppo als erster Schritt?
De Mistura hat Aleppo genannt als eine der Zonen, wo sein Plan, den Konflikt "einzufrieren", einsetzen könnte. Ob das gelingt oder nicht, dürfte weitgehend davon abhängen, wie die Kriegsparteien dort ihre Aussichten auf einen vollen Sieg einschätzen. Für die Rebellen sind solche Aussichten gering, doch Assad und seine Berater könnten sich möglicherweise sagen, es fehle nur noch ein kleiner Schritt für sie, um die Stadt wieder ganz unter ihre Herrschaft zu zwingen.
Wenn sie die Lage so sehen, werden sie schwerlich einem "Einfrieren" der gegenwärtigen Lage zustimmen, es sei denn, die genaueren Bedingungen dieses "Einfrierens", die natürlich mit den Rebellen und mit den UNO Vermittlern ausgehandelt werden müssten, würden so formuliert, dass sie der Regierung erlaubten, Macht über die ganze Stadt zu erhalten. Dagegen würden sich die Rebellengruppen natürlich in den Verhandlungen nach Kräften sträuben.
Nur Chancen, wenn die Siegesgewissheit vergeht
Dieser Grundsatz gilt allgemein, wie Mistura es selbst formulierte, "wenn die Kriegsparteien einsehen, dass sie nicht endgültig gewinnen können, werden sie auf Kompromisse hinsteuern". Der Krieg der Amerikaner und ihrer Verbündeten gegen IS ist die neue Lage, die möglicherweise die Chancenbewertung der bisherigen Kriegsparteien verändern könnte. Die Rebellen aller Couleur gegen Assad sind bitter enttäuscht darüber, dass die Amerikaner und Verbündeten nun ihren Krieg auf IS konzentrieren und sie gegenüber Assad alleine lassen.
Vielen von ihnen gilt IS als das kleinere Übel gegenüber Assad. Die islamistisch ausgerichteten Gruppen können sagen, sie hätten "schon immer" gewusst und damit gerechnet, dass die Amerikaner ihnen nicht helfen, sondern eher schaden würden. Doch die nicht islamistischen Gruppen - soweit sie noch existieren - sind am meisten enttäuscht und empört. Nun, da sie noch weniger als je zuvor auf die Amerikaner zählen können, sind ihre Chancen sehr schlecht geworden. Sie würden daher am ehesten dazu zu bewegen sein, hier oder dort die Fronten einzufrieren.
Umgekehrt aber haben sich die Aussichten für Assad deutlich verbessert. Für ihn besteht nun die Hoffnung, er könnte sein Regime zumindest im westlichen Teil Syriens endgültig festigen. Gleichzeitg kann er hoffen, die Amerikaner und Freunde würden IS im Osten Syriens allmählich schwächen. Er könnte dann möglicherweise später dort die Nachfolge des IS antreten. Die Amerikaner selbst, würden gewiss wenig Interesse zeigen, jene Teile Syriens, die heute unter IS stehen, selbst zu regieren.
Die Nusra Front imitiert den IS
Die Nusra Front allerdings dürfte versuchen, das Erbe von IS in Syrien anzutreten, wenn und falls dieses fällig wird. Nusra, der offizielle Arm von al-Qaida für Syrien, sucht sich gegenwärtig als Alternative zum IS zu situieren, indem sie darauf ausgeht, ihr eigenes Herrschaftsgebiet in Idlib einzurichten. Sie hat Ende September und Anfang Oktober zwei sogenannt gemässigte Gruppen aus Idlib verdrängt und sich ihrer Waffen, geliefert von den Amerikanern, bemächtigt. Die Verdrängten waren die Syrische Revolutionäre Front unter Jamal Maaruf und die Hamza Front unter Abdullah Odeh . Zuvor hatte Nusra in Idlib (ähnlich wie einst ISIS in Raqqa mit anderen Widerstandsgruppen) mit ihnen zusammengearbeitet.
Doch seit dem 23. September, dem Tag eines Luftangriffs der Amerikaner auf Nusra, hat sich Nusra entschlossen, die "pro-amerikanischen" Brüder nun als Rivalen einzustufen und zu bekriegen. Die Front erklärte, die beiden anderen Gruppen hätten sie an die Amerikaner verraten. Nusra erklärte ein "Emirat" in Idlib, parallel zu dem "Kalifat" des IS. Die Front scheint nun die ganze Provinz Idilb zu beherrschen mit Ausnahme der Hauptstadt, ebenso Idlib genannt, wo die Regierung noch durchhält. Was die Al-Front vom IS gelernt hat, ist offensichtlich die auf Erwerb eines eigenen Territoriums abzielende Politik. Früher hatte die Al-Nusra Front sich darauf konzentriert, gegen Damaskus zu kämpfen mit dem Ziel, ganz Syrien in einen "islamischen Staat" zu verwandeln.
Die verschwindenden "gemässigten" Gruppen
Im Falle der Hamza Front kam es zu einer Umzingelung des Hauptsitzes der Front durch Nusra. Wobei Nusra bedeutende Mengen von amerikanischen Waffen erbeutete und viele der Kämpfer von Hamza entweder gefangen wurden oder zu Nusra überliefen.
Theoretisch beabsichtigen die Amerikaner nach ihren eigenen Aussagen, die sogenannt gemässigten Gruppen in Syrien zu stärken und ihnen die Nachfolge sowohl der beiden radikalen Islamistengruppen zu überlassen, das wären IS und Nusra, wie auch jene des Assad Regimes, falls alle drei verschwinden sollten. Doch dies droht reine Theorie zu bleiben, oder auch reine Propaganda ohne Wirklichkeit. Die gemässigten schmelzen dahin, so sehr, dass sie kaum mehr vorhanden sind.
Der Ermüdungsfaktor
De Mistura setzt auch auf die Kriegsmüdigkeit auf beiden Seiten - oder auf allen Seiten der Kämpfer. In der Tat gibt es zunehmend Stimmen, die davon sprechen, dass die Belastung der alawitischen Dörfer durch die vielen Todesfälle alawitischer Offiziere und Soldaten, die oft in Särgen in ihre Heimatdörfer zurückkehren, um dort beerdigt zu werden, sich auf die alawitischen Bevölkerungsteile auswirkt. Ihre Siegesgewissheit klingt ab. Noch hält sie die Notwendigkeit der Selbsterhaltung auf Seiten der Regierung.
Doch wahrscheinlich wären viele der Alawiten für eine "Einfrierung" der Konflikte zu haben. Wenn dies ihnen Sicherheit für ihre Wohngebiete gewährte. Die Stimmung in der alawitischen Minderheit kann Assad nicht ignorieren, ohne seine eigene Herrschaft in Gefahr zu bringen. Kriegsmüdigkeit und Kriegsverdruss sind natürlich in allen Teilen der überall schwer leidenden syrischen Bevölkerung verbreitet.
Auch die äusseren Mächte müssen in die komplizierte syrische Gleichung miteinbezogen werden. De Mistura hat auch bereits in Moskau vorgesprochen. Er steht selbstverständlich in Verbindung mit Washington. Für Russland, Amerika, Europa und auch für Iran und sogar für Saudi Arabien ist die neue Macht von IS wahrscheinlich wichtiger als Syrien selbst. Ihre Entstehung berührt die Weltpolitik, weit über syrische Belange hinaus. Deshalb kann die neue UNO Offensive auf mehr Hilfsbereitschaft der Aussenmächte zählen als zur Zeit der misslungenen Zweiten Genfer Konferenz (10.-15. Februar 2014). Ihre eigenen Interessen sind wegen der Präsenz von IS stärker betroffen, als sie es damals waren. Allen Seiten ist klar, je länger Kämpfe und Elend in Syrien andauern, desto mehr verbessern sich die Aussichten für IS und für Nusra. Umgekehrt, wenn es gelänge, einige der Kampfesfronten "einzufrieren", würden Kräfte frei gegen IS und Nusra, und erste Elendsreduktionen würden denkbar, welche die Extremisten einiger ihrer Rekrutierungsgründe beraubten.
Gebrochene Versprechen
Doch natürlich würden die Aussenmächte auch versuchen, das "Einfrieren" so zu bewerkstelligen, dass ihre Seite in der syrischen Konfrontation den meisten Gewinn daraus zöge. Dabei sind die Amerikaner im Nachteil, denn sie und ihre Verbündeten, haben kaum mehr syrische Klienten oder Verbündete, für die sie sich einsetzen können. Obama hat zwar den Plan aufgestellt, solche auf die Beine zu stellen. 500 Millionen Dollar wurden dafür vorgesehen. Doch der Plan hat bisher keine Früchte getragen. Die damals bitter zerstrittenen Exilpolitiker der syrischen Emigration mussten schon für die Zweite Genfer Konferenz mit viel Zureden und Versprechen zur Teilnahme überredet werden. Die Versprechen wurden nicht eingehalten. Von der syrischen Exilregierung, die auf dem Papier von den westlichen Freunden Syriens als die Regierung des Landes anerkannt worden war, ist heute kaum mehr die Rede. Aus diesen Gründen müssten es die "lokalen Kräfte" sein, die je nach Kampfesfront noch Widerstand leisten, die dem "Einfrieren" zustimmen müssten.
Der Vorgang wäre nach De Mistura "von unten nach oben" zu führen. Doch auf der Regierungsseite werden es lokale Regierungskräfte sein, die verhandeln und mögliche Verträge abschliessen. Auf der Seite der Rebellen sind es blosse lokale Kräfte ohne den Rückhalt bei einer weiteren Macht hinter ihnen. Was eine Ungleichheit der Kräfte bewirkt. Vielleicht eine Verlockung für die syrische Regierung auf den Plan mindestens versuchsweise einzugehen. Sie könnte versuchen, ihn dermassen zu handhaben, dass sie zusätzlich an Macht gewinnt, ohne kämpfen zu müssen. Wenn sich das als unmöglich erweisen sollte, könnte sie immer noch abbrechen, wie es zur Zeit der ersten Schlichtungsversuche der UNO 2012 unter Kofi Annan und später unter Lakhdar Brahimi schon einmal geschehen ist.