Vieles deutet darauf hin, dass die Truppen das türkische Ziel, eine 50 Kilometer tiefe Grenzregion zu besetzen, die dann als Sicherheitszone definiert werden soll, durchsetzen sollen. Die Vorbereitungen wurden von martialischen Worten des türkischen Präsidenten Erdoğan begleitet. Die iranische Regierung warnte die Türkei eindringlich vor einem Einmarsch.
Trumps Drohung
Präsident Trump liess verlauten, dass die Türkei, Europa, Syrien, Iran, Irak, Russland und die Kurden „die Situation regeln“ müssten. Am Sonntagabend hatte das Weisse Haus angekündigt, dass die USA „nicht mehr in der unmittelbaren Umgebung“ Nordsyriens aktiv sein werden. Aus Trumps Rhetorik eine verlässliche und stimmige Haltung gegenüber der Türkei abzuleiten, ist schier unmöglich.
Mit seiner Drohgebärde, er werde „die Wirtschaft der Türkei völlig zerstören und auslöschen (das habe ich schon einmal getan!)“, falls die Türkei nicht den amerikanischen Interessen entsprechend vorgehe, will er offensichtlich der Kritik der Demokraten in den USA das Wasser abgraben. Sie werfen Trump vor, die Kurden und die Demokratischen Kräfte Syriens (DFS) in Nordsyrien (und damit amerikanische Interessen) zu verraten. Im Grunde will Trump damit den Einsatz in Nordsyrien „outsourcen“ und die Türkei zu einem Akteur amerikanischer Interessen machen. Der schwer zu berechnende türkische Präsident Erdoğan wird aber seine Politik vom Verdacht, nur der Franchise-Partner der USA zu sein, freihalten wollen und daher doch Dinge tun, die Trump „in seiner grossen und unvergleichlichen Weisheit für tabu hält“. In dem sich dann abzeichnenden Konflikt werden die Europäer noch zu vermitteln haben.
Nähe zur Türkei
Es geht dabei nicht nur um America First, sondern auch um eine Neubestimmung der komplizierten Allianzen im Syrienkrieg. Trump betonte, dass Kurden zwar „mit uns“ gekämpft und dafür „riesige Summen an Geld und Ausrüstung“ bekommen hätten, doch zugleich kämpften sie „seit Jahrzehnten gegen die Türkei“. Im Gegenzug versucht Trump, die Türkei darauf zu verpflichten, im Falle einer Intervention in Nordsyrien nur solche Ziele zu verfolgen, die deckungsgleich mit denen der USA sind.
Trotz seiner martialischen Rhetorik in Richtung Türkei positioniert Trump die USA sehr viel näher an Erdoğan und akzeptiert damit auch die türkischen Teilinteressen in der Region, die unter der Militärherrschaft der Demokratischen Kräfte Syriens und damit auch der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) stehen. Eine Invasion in den Nordosten Syrien würde zugleich bedeuten, dass der Türkei die Verantwortung für gefangene IS-Kämpfer in der Region übertragen würde. Angesichts der lokalen Reaktivierung von IS-Gemeinschaften trauen die USA der Türkei wohl eher eine effiziente Kontrolle der Gefangenenlager zu.
Der am Sonntag angekündigte und am Montag in Teilen schon erfolgte Abzug von US-Einheiten aus der Grenzregion von Tall Abyaḍ und Rasūlayn bedeutet eine Zerreissprobe für die Militärherrschaft der Demokratischen Kräfte Syriens, die ja selbst auf einer Koalition sehr unterschiedlicher Formationen ethnischer und konfessioneller Gruppen beruht. Das Ziel dürfte sein, die YPG aus dieser Koalition herauszusprengen und durch die türkische Armee zu ersetzen. Für die nichtkurdischen Partner in der Koalition würde sich die Frage stellen, ob sie in der türkischen Armee nicht doch einen besseren Verbündeten fänden, der sie auch längerfristig vor der Restauration der Herrschaft des syrischen Regimes in der Region schützen könnte. Die YPG wäre dann isoliert und würde einen Zweifrontenkrieg allein wohl kaum bestehen können. Daher gibt es seitens der YPG eine martialische Rhetorik („Wir werden keinen Moment zögern, um uns gegen die türkische Operation zu verteidigen.“), auf der anderen Seite heisst es, man hoffe, dass die internationale Koalition die Rückzugsentscheidung doch noch überdenken werde.
Strategische Umsiedlung?
Bis 2012 hatte die Partei der Demokratischen Union (PYG), der politische Arm der YPG, keinen Hehl daraus gemacht, Teil der transnationalen Organisationslandschaft der PKK zu sein. Seit 2011 wurde die YPG durch kurdische Kämpfer der PKK aus dem Nordirak verstärkt, doch schon ein Jahr später wurden die Beziehungen zur PKK zumindest in der Öffentlichkeit kaum noch erwähnt. Als syrischer Ableger der PKK teilt die YPG deren ideologische Muster und Symbole. Sie sind in den von der PYG beherrschten Regionen allgegenwärtig. Ob und in welchem Umfang die YPG aber auch in Nordirak und in der Südosttürkei aktive PKK-Einheiten militärisch unterstützt und ob Waffen und Gelder, die die YPG aus dem Westen erhielt, an die PKK weitergereicht wurden, lässt sich mit kaum mit Bestimmtheit sagen. Eher ist davon auszugehen, dass die PKK die YPG auch logistisch unterstützt.
Medien berichten, die Türkei denke sogar daran, die kurdische Bevölkerung in der Grenzregion in den Süden abzudrängen und in der „Sicherheitszone“ arabische oder turkmenische Flüchtlinge anzusiedeln. Eine solche strategische Bevölkerungspolitik ist theoretisch denkbar; man kann sich sogar Szenarien vorstellen, wonach Flüchtlinge, die jetzt aus Idlib vertrieben werden, unter Zustimmung des Regimes in Damaskus in die Grenzregionen östlich des Euphrats umgesiedelt werden. Darauf würden über kurz oder lang die kurdischen Gemeinschaften mit einem Krieg reagieren, der zu einem Zusammenbruch der instabilen sozialen Ordnung führen und wohl auch den Südosten der Türkei erfassen würde. Dieses Risiko dürfte Erdoğan wohl kaum eingehen wollen.
Eine solche Bevölkerungspolitik widerspricht auch den türkischen Sicherheitsinteressen, mit denen eine mögliche Intervention begründet wird. Wenn es darum geht, die Sicherheit der Bevölkerung in der Türkei zu gewährleisten, müsste daher eine völlig andere strategische Richtung gewählt werden, zumindest in Richtung, die die kurdische Bevölkerung des Landes nicht weiter zum Feind macht.
Die Rolle Europas
Die Europäer hat die Türkei dabei nicht zu fürchten. Erdoğan hat immer wieder betont, dass die EU „eine starke Türkei“ brauche. Für die EU bedeutet dies in erster Linie, einen stabilen Partner zu haben, der als Auffanggebiet und Riegel die Flüchtlingsbewegung aus Syrien und Irak und als strategischer Vorposten gegen russische Interessen in der Region dient. Solange die EU keine weiteren Vorstellungen entwickelt, welche Rolle die Türkei im europäischen Interessensgefüge spielen soll und wie diese mit der bestehenden Nato-Mitgliedschaft der Türkei in Übereinstimmung zu bringen ist, wird Erdoğan seine Interessen ungehindert durchsetzen können.
Weitergehende Schritte zur Einhegung der türkischen Interessen wie etwa die Einfrierung der Nato-Mitgliedschaft der Türkei werden gescheut. Dabei wäre es auch für Europa wichtig zu signalisieren, dass der Westen nicht bereit ist, tatenlos zuzusehen, wie die Lage in Syrien weiter destabilisiert wird. Der nun auch im Nordosten des Landes drohende Zusammenbruch der Gesellschaft würde nicht nur dem „IS“ ein neues Handlungsfeld verschaffen, sondern den Flüchtlingsstrom erneut anschwellen lassen.
Das Regime in Damaskus wird über die Vorbereitungen für eine solche Intervention von der Türkei sicherlich wohl informiert sein. Auf keiner Seite besteht ein Interesse an einem syrisch-türkischen Krieg. Aus der Sicht von Damaskus würde mit einer Intervention die Türkei syrische Hoheitsaufgaben übernehmen und zugleich einen Konkurrenten um die Macht im Nordosten des Landes ausschalten. Damit würde das Regime von Damaskus eine Art Outsourcing des Kriegs betreiben, eine Strategie, die das Regime bestens beherrscht und wodurch es die nominelle Herrschaft über grosse Teile des Landes wiedererlangen konnte. Eine türkische Intervention käme dem Regime daher gelegen, denn im Gegenzug werden die Regimetruppen mit russischer Hilfe versuchen, die Rebellenhochburg Idlib zu besetzen.