Ich bin nicht in der Schweiz geboren. Ich habe meine Kindheit nicht in der Schweiz verbracht. Meine Muttersprache ist nicht Schweizerdeutsch. Aber mein Zuhause ist die Schweiz. Vom Anfang an habe ich hier die Chance bekommen, ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft zu werden. Im Gegenzug durfte ich darauf vertrauen, dass ich gleich behandelt werde wie die anderen Bewohner der Schweiz, und ich musste nie fürchten, wegen geringfügiger Fehler aus dem Land, in dem ich neue Wurzeln geschlagen hatte, automatisch abgeschoben zu werden. Dieses gegenseitige Vertrauen war der Grundstein für eine angstfreie und engagierte Existenz in diesem Land, das längst zu meiner Heimat geworden ist. Ich habe hier meine Ausbildung abgeschlossen, übe gerne meinen Beruf aus, ziehe mit meinem Mann unsere Kinder auf, engagiere mich ehrenamtlich in der Gemeinde, fühle mich akzeptiert in der Gesellschaft, in der ich lebe.
Angriff auf die Menschenrechte
Zu Recht darf die Schweiz auf die humanen Werte stolz sein, die hier gelten und gepflegt werden. Es ist erschütternd, dass ausgerechnet die Partei, die behauptet, für die Werte der Schweiz einzustehen, eben diese Werte mit den Füssen tritt und pervertiert. Die Durchsetzungsinitiative greift grundlegende Menschenrechte an und kündigt deren Schutz auf.
Es verstösst gegen jegliches Gerechtigkeitsempfinden, dass für die Miteinwohner ohne Schweizerpass, die im gleichen Spital wie ihre Schweizer Freunde geboren sind, in der gleichen Schulbank gesessen, dasselbe Büro geteilt, dieselben Elternabende besucht haben, demselben Verein angehören und dieselbe Sprache sprechen, nicht dasselbe Recht gelten soll wie für die Einwohner mit dem roten Pass. Vor dem Gesetz wären von nun an die Menschen in der Schweiz nicht mehr gleich.
Automatismus gegen Einzelfallprüfung
Dasselbe Delikt, das ein Secondo und ein Schweizer begingen, würde mit einem unterschiedlichen Strafmass geahndet werden. Während der Schweizer Büro-Kollege für zwei Bagatelldelikte die Busse zahlt und wieder zur Tagesordnung übergeht, wird der Secondo für dieselben Delikte des Landes verwiesen, wo auch er sein ganzes Leben verbracht und seine Existenz aufgebaut hat. Er hätte nicht einmal das Recht darauf, dass sein Fall einzeln überprüft werde, wie dies selbst einem Schweizer Mörder zugestanden wird, sondern ihn würde selbst bei einem Bagatelldelikt automatisch die ausserordentlich schwerwiegende Massnahme – der Landesverweis – treffen.
Der Ausweisautomatismus lässt keinen Raum mehr für die Einzelfallprüfung, und es wird weder der Schwere des Verschuldens Rechnung getragen noch der Frage, wie lange und wie unbescholten der Migrant in der Schweiz bisher gelebt hat.
Faires und friedliches Zusammenleben
Die Durchsetzungsinitiative strebt ein Apartheid-Regime in der Schweiz an. Wollen wir wirklich eine Schweiz, die sich ihrer humanen Werte und grundlegenden Menschenrechte entledigt hat?
Ein Nein zur Durchsetzungsinitiative ist eine Liebeserklärung an die Schweiz, die wir uns erhalten wollen: Offen für ein faires und friedliches Zusammenleben und die Gleichbehandlung aller Menschen, die ihren Teil dazu beitragen, dass der Staat und die Gesellschaft florieren.
Katja Fusek, 1968 in Prag geboren, kam 1978 in die Schweiz und lebt in Riehen. Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Basel und an der Sorbonne Paris, Lizenziatsabschluss. Sie schreibt als tschechisch-schweizerische Schristellerin auf Deutsch und ist als Sprachlehrerin tätig.