Kaum zweifelhaft: Putin wird in einem Jahr erneut zum russischen Präsidenten gewählt. Aber der unerschrockene Korruptionsenthüller Nawalny könnte ihn das Fürchten lernen – selbst wenn er von der Wahl ausgeschlossen wird.
Am vergangenen Sonntag haben in zahlreichen Städten Zehntausende von Bürgern gegen die Korruption der Machthaber demonstriert. Es waren die grössten Proteste seit den Massendemonstrationen in Moskau und St. Petersburg vor fünf Jahren gegen die manipulierten Duma-Wahlen. Der Hauptanführer der neuen Protestwelle ist der 40-jährige Korruptionsenthüller Alexei Nawalny. Der unerschrockene Jurist hat sich inzwischen zur profiliertesten Persönlichkeit im schütteren – und meist zerstrittenen – Feld der aktiven Kreml-Kritiker entwickelt.
Putin lässt diese neue Unmutswelle offenkundig nicht gleichgültig. Nawalny ist denn auch prompt zu Beginn der sonntäglichen Demonstration in Moskau verhaftet und zu einer 15-tägigen Haft verurteilt worden. Solche Entscheidungen werden nicht ohne entsprechenden Wink des Kremlchefs gefällt.
Nawalny ist kein Neuling unter den russischen Oppositionsfiguren. Schon 2013 trat er bei der Bürgermeisterwahl in Moskau gegen den vom Regime gesalbten Amtsinhaber an und erhielt beachtliche 27 Prozent der Stimmen. Wegen Verwicklung in einen angeblichen Betrug ist er von einem Bezirksgericht zu dreieinhalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hat den Richterspruch als unrechtmässig beurteilt. Der Prozess wurde neu aufgerollt und Nawalny im Februar wieder verurteilt – weitgehend mit der gleichen Begründung wie beim aufgehobenen Schuldspruch.
Der charismatische Oppositionelle, dem eigene nationalistische Töne nicht fremd sind, hat bereits seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl im kommenden März angekündigt. Doch ist völlig ungewiss, ob diese zugelassen wird. Laut einem neuen Gesetz kann eine Bewerbung aufgrund von Vorstrafen abgelehnt werden.
Nawalnys schärfste Waffe sind seine hauptsächlich über Youtube und andere soziale Plattformen verbreiteten Film-Dokumentationen über Luxus-Immobilien und weitere millionenschwere Besitztümer höchster Staatsfunktionäre von Putins Gnaden. Erst vor kurzem hat er mit seiner „Stiftung für den Kampf gegen die Korruption“ ein Video (auf Russisch nennt er sie „Roliki“) veröffentlicht, die märchenhafte Villen und Latifundien bei Moskau, in Sotschi am Schwarzen Meer und in der Toscana sowie zwei riesige Jachten zeigen – alles Besitztümer, die der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew über ein Gewirr von Pseudo-Stiftungen kontrollieren und de facto besitzen soll.
Diese 50-minütige Dokumentation, von Nawalny eloquent, witzig und faktenreich kommentiert, ist inzwischen bereits 4,7 Millionen Mal auf Youtube aufgeschaltet und laut „New York Times“ mit andern Plattformen zusammengezählt sogar 13 Millionen Mal angesehen worden. Medwedew hüllt sich zu diesen sensationellen Enthüllungen bisher in Schweigen. Ebenso reagierten in den letzten Jahren andere prominente Figuren aus Putins Machtzirkel auf Nawalnys Roliki-Enthüllungen. So etwa der immer noch amtierende Generalstaatsanwalt Juri Tschaika, dessen Sohn Artjom auch in der Schweiz über Immobilien mit dubioser Finanzierung verfügt.
Die russischen Bürger, die am letzten Wochenende auf die Strasse gingen, um gegen die Korruption der Mächtigen zu protestieren, wollen sich mit dem auffallenden offiziellen Schweigen zu diesen Vorwürfen nicht abfinden. In Moskau forderten sie von Ministerpräsident Medwedew eine Antwort auf Nawalnys atemraubende Enthüllungen. Bis zur Präsidentenwahl in einem Jahr könnte dieser Ruf noch mächtig anschwellen. Zwar geniesst Putin noch immer breite Popularität. Aber die allgemeine Putin-Euphorie nach der Krim-Annexion vor drei Jahren sei vorbei, sagte dieser Tage Lew Gudkow, der Leiter des unabhängigen Umfrage-Instituts Lewada.
Vielleicht sägt Nawalny mit seiner hochprofessionell inszenierten Internet-Kampagne gegen die überbordende Korruption oberster Staatsfunktionäre an Putins Achillesferse.