„Wir leben im Wald und wir werden im Wald sterben. Der Wald ist unsere Mutter und unser Leben. Die Natur ist unser Leben, ohne Natur können wir nicht leben“, sagen die Frauen und Männer vom Volk der Chenchu. Seit Jahrtausenden leben sie im Nallamala-Wald in den indischen Bundesstaaten Andhra Pradesh und Telangana, rund 200 Kilometer südlich der Millionenstadt Hyderabad.
Nachhaltigkeit
Doch wenn es nach dem Willen der Behörden geht, sollen sie nun ihren Wald verlassen. „Die Forstbehörde will uns von hier vertreiben. Wir wollen aber nirgendwo anders leben. Wir schützen unseren Wald. Wenn wir ihn verlassen, ist es, wie einen Fisch aus dem Wasser zu nehmen: Er wird sterben (…) Das ist, wie Kinder von ihren Müttern zu trennen.“
Die Chenchu werden auch heute noch zu den „primitiven Stammesgruppen“ von Sammlern und Jägern gezählt, die kein Land kultivieren und isoliert von der modernen Welt leben. Sie betrachten alle Tiere, auch die gejagten, als Verwandte und Götter. In den siebziger Jahren wurde ihnen die Jagd allerdings verboten. Seither sammeln sie nur noch, Früchte und Kräuter. Über zwanzig verschiedene Früchte und 88 Kräuterarten stehen auf ihrem Speiseplan. Ihre Traditionen und Gesetze schreiben ihnen vor, dem Wald niemals mehr zu entnehmen, als sie benötigen und nichts zu verschwenden. „Wenn Menschen von draussen kommen, dann fällen sie alle Bäume und nehmen sich alle Früchte“, zitierte die Menschenrechtsorganisation „Survival International“, die sich für bedrohte Völker einsetzt, einen Chenchu. „Wir dagegen fällen die Bäume nicht, wir nehmen nur die Früchte, die wir brauchen.“
„Dann wird es uns nur noch auf Fotos geben.“
Im Wald leben nicht nur die Chenchu, der Wald beherbergt seit den achtziger Jahren auch das Tiger-Reservat Amrabad. Damals, als ihr Land zum Reservat erklärt wurde, hatten die Chenchu eines ihrer Dörfer verlassen müssen. Von den 750 Familien, die einst in dem Dorf Pecheru lebten, so berichten sie, hätten nach der Vertreibung nur 160 Familien überlebt. Viele seien verhungert. Nun sollen auch die verbliebenen Chenchu den Wald verlassen.
Denn, so rechtfertigen Indiens Naturschutzbehörden die Zwangsvertreibung der indigenen Bevölkerung, die nach Artikel 7 der Statuten des Internationalen Gerichtshofs ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ darstellt, allein die blosse Anwesenheit von Menschen sei schädlich für die Tiger. Auch nach indischem Recht müssen Räumungen freiwillig und gegen Entschädigung erfolgen. In der Regel jedoch werden die betroffenen Gemeinschaften nicht über ihre Rechte informiert. Im Gegenteil, oft wird Druck auf sie ausgeübt, und die ausgezahlten Entschädigungssummen reichen nur selten aus, um an einem Leben ausserhalb ihrer gewohnten Umgebung teilzunehmen. Meist versinken solchermassen entwurzelte Waldbewohner in den Slums der Städte in Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Prostitution.
Tatsächlich sind es schlicht Profitinteressen, denen die Chenchu im Wege stehen. Während die Regierung im Namen des Naturschutzes ihre Umsiedlung verfolgt, liess sie Strassenbau, Probebohrungen nach Rohstoffen und sogar Bergbau zu. „Die Regierung verkauft den Wald an Bergbau-Unternehmen. Wenn wir aufs Flachland umziehen müssten, würden wir trinken und sterben“, klagt eine Frau. „Die Chenchu wird es dann nur noch auf Fotos und in Videos zu sehen geben.“ Vor wenigen Wochen genehmigte die Regierung die Erkundung von Uran-Vorkommen.
Trekking und River Rafting für den Erhalt der Natur
Wie die Times of India schon im Januar berichtete, plant die Regierung von Andhra Pradesh zudem, die Region „mit der besten Infrastruktur“ zu einem der „heissesten Wildlife Spots heraus(zu)putzen, um Touristen anzulocken“. Zwar verfüge Andhra Pradesh ja bereits über zwei Tierparks, die bislang aber „keine Tierenthusiasten anlocken konnten“, monierte das Blatt. Dennoch solle nun am Rande des Nallamalawaldes ein Zoo eingerichtet werden. „Wir haben einige grosse Projekte in der Region geplant“, warf sich Umweltminister Bojjala Gopalakrishna Reddy stolz in die Brust. Neben der Erweiterung des (durch den Wald führenden) Nagarjunasagar–Kurnool-Highways würden alle 72 Stammesansiedlungen der Chenchu schon in der ersten Bauphase mit Asphaltstrassen verbunden werden.
Demnächst wird auch das Bairluti Dschungelcamp im Bezirk Kurnool eröffnet, das zu einem Zentrum des Öko-Turismus heranwachsen soll: „Trekking, River Rafting, Vogelbeobachtung ... Das Studium des Bogenschiessens und der Traditionen der Eingeborenen soll die Besucher für den Erhalt der Natur sensibilisieren und die Lebensbedingungen der Einheimischen verbessern“, verteidigte ein Beamter der Forstverwaltung im Interview mit dem Deccan Chronicle die zahlreichen Aktivitäten im angeblichen Tigerschutzgebiet.
Lügenmärchen
Aufgebracht warf Stephen Corry, der Direktor von Survival International, den indischen Behörden „Heuchelei“ vor. „Die Behörden wollen die Indigenen vertreiben, die ihre Natur seit Jahrtausenden verwalten, weil der Tiger angeblich darunter leidet, dass dort Menschen leben. Aber dann erlauben sie Uran-Erkundungen. Es ist ein Lügenmärchen. Und es schadet dem Naturschutz. Urlauber, die das Tiger-Reservat in Amrabad besuchen wollen, sollten wissen, dass sie ein System unterstützen, bei dem indigene Völker illegal von ihrem angestammten Land vertrieben werden könnten. Und dass eines Tages ein Uranbergwerk an ihre Stelle tritt.“
Die Chenchu sind nur eines von mehreren indigenen Völkern in Indien, die gegen ihre Vertreibung vom Land ihrer Vorfahren kämpfen. Indiens Verfassung beschreibt die 150‘000 Baigas, die in den Wäldern der zentralindischen Bundesstaaten Madhya Pradesh und Chhattisgarh von Waldprodukten, Fischfang und Wanderfeldbau leben, als eine besonders verletzliche Volksgruppe (Particularly Vulnerable Tribal Group). Jahrzehntelang wurden sie diskriminiert, von Regierungsbehörden und Umweltschützern aus ihrem angestammten Lebensraum vertrieben und in Umsiedlungslagern eingepfercht, in denen sie unter erbärmlichen Bedingungen dahinvegetierten oder nach der Vertreibung einfach sich selbst überlassen waren.
Bergbau im heiligen Berg
Erst im vergangenen Jahr erkannte die Regierung in Bhopal den ersten 900 Baiga-Familien ihre angestammten Rechte über das Land und die Wälder ihrer Ahnen an. Unter Hinweis auf eine alte Notiz in der amtlichen Gazette der britischen Kolonialmacht, in der das Gebiet als „Baiga Chak“ (Land der Baiga) definiert war, wurden sieben Baiga-Dörfern 9000 Hektar zugesprochen. Ohne Zustimmung der Baigas kann die Regierung dort nun keine Landverteilung mehr vornehmen. „Das ist ein guter Start“, freute sich Ramesh Sharma von der gemeinnützigen Organisation Ekta Parishad, „eine Menge muss aber noch getan werden. Denn die Baiga leben nicht nur in Baiga Chak, sondern sind über ganz Chhattisgarh und Madhya Pradesh verstreut.“
Im Bundesstaat Odisha am Golf von Bengalen sehen sich die Dongria Kondh, die in Dörfern um die Niyamgiri-Berge leben und dort als „Hüter der Flüsse“ ihren Gott Niyam Raja auf dem „Berg des Rechts“ beschützen, massiven Repressalien ausgesetzt. Denn ihr Berg des Rechts birgt grosse Mengen Bauxit, die das britische Bergbauunternehmen Vedanta Resources dort abbauen will. Weder die Anwesenheit der Dongria Kondh und benachbarter Völker, noch internationale Proteste oder die fehlende Genehmigung für eine Mine hielten die Firma davon ab, in der Nähe des heiligen Berges schon mal eine Bauxit-Raffinerie zu errichten. Dazu mussten natürlich grosse Teile des angestammten Waldes der Dongria Kondh gerodet werden, wodurch ein Dorf komplett zerstört wurde. Die Menschen wurden kurzerhand in Lager umgesiedelt und sind nun von Sozialleistungen abhängig.
„Ich werde niemals aufhören, die Wälder zu schützen.”
Zwar lehnten die Dongria den Vorschlag zum Bau einer Mine schon 2013 in einem Referendum ab. Doch das spornte Vedanta Resources nur an, mit der Unterstützung der lokalen Polizeibehörden den Druck auf die Waldbewohner zu erhöhen. Einschüchterungen, Entführungen und illegale Festnahmen häuften sich. Dongria wurden geschlagen und mit Elektrokabeln gefoltert. Obwohl kein Haftbefehl vorlag, wurde die 20-jährige Kuni Sikaka, Tochter zweier prominenter Dongria-Sprecher, um Mitternacht von der Polizei aus ihrem Haus geschleppt und anschliessend ohne jegliche Beweise vor lokalen Medien beschuldigt, eine „kapitulierte Maoistin“ (in Indien und Nepal operiert seit Beginn der sechziger Jahre eine starke maoistische Guerilla) zu sein.
Dasuru Kadraka, den 30 Jahre alten Jugendführer der Niyamgiri Suraksha Samiti, die gegen den Bau der Mine kämpft, nahmen Polizisten auf dem Markt von Muniguda fest und hielten ihn ohne Verfahren 12 Monate in Haft. Nach seiner Entlassung gab er eine Erklärung ab: „Ich wurde zum Leiter der Polizeistation gebracht. Dort wurde ich gefoltert mit festgebundenen Händen und (…) Elektroschocks, um mich zu zwingen aufzugeben (…) und mich dazu zu bringen, die Save Niyamgiri-Bewegung zu verlassen. Aber ich weigerte mich (…) Die Bewegung ist mein Leben. Ich werde niemals aufhören die Niyamgiri-Berge und die Wälder zu schützen.”
Im Oktober 2015 wurde Bari Pidikaka, ebenfalls vom Volk der Dongria Kondh, festgenommen und inhaftiert, als er von einer Protestveranstaltung heimkehrte. In der letzten Woche starb er im Gefängnis.
In einem offenen Brief an den Präsidenten Indiens erklärten über 100 unabhängige indische Organisationen: “In den vergangenen zwei bis drei Jahren wurden Jugendliche und Älteste der Dongria Kondh festgenommen, eingeschüchtert oder getötet. Einer hat Selbstmord begangen, nachdem er wiederholt Festnahmen und möglicherweise Folter durch Sicherheitskräfte erlebt hatte. In keinem dieser Fälle konnten Beweise für die Behauptung der Sicherheitsbehörden erbracht werden, dass die Betroffenen mit sogenannten Maoisten in Verbindung standen."