Wie steht es mit Donald Trump oder Wladimir Putin? Nach den Kriterien von George Orwell, der 1945 einen Essay über Nationalismus schrieb, der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint*, ist der Fall klar. Beide sind Nationalisten. Der Nationalismus sei untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden, schreibt Orwell. «Das dauerhafte Ziel jedes Nationalisten besteht darin, immer mehr Macht und immer mehr Prestige anzuhäufen. Allerdings, heisst es weiter, tue das der Nationalist nicht für sich selbst, «sondern für die Nation oder eine andere Einheit, der er seine Individualität geopfert hat».
Bei diesem letzten Punkt scheint eine gewisse Unterscheidung zwischen Trump und Putin am Platz. Der Mann im Weissen Haus gibt zwar vor, bei allen seinen Anstrengungen und Bemühungen gehe es ihm nur darum, Amerika wieder gross und stark zu machen. Doch das sind hohle Sprüche. In Wirklichkeit interessiert ihn nur sein eigenes Ego, die Ausdehnung seiner persönlichen Macht. Ginge es ihm tatsächlich um das Wohl Amerikas, so würde er sich auf konstruktive Kompromisse mit dem Kongress konzentrieren, anstatt die Gesellschaft mit gusto immer tiefer in die Spaltung zu treiben. Insofern ist er ein egomanischer Nationalist.
Im Kern unsicher
Putin dagegen nimmt man es eher ab, dass es ihm bei seinen robusten Machtspielen nicht allein um seine persönliche Dominanz geht, sondern ebenso auch um die machtmässige Expansion und die einschüchternde Überlegenheit seines Landes auf der Weltbühne. Putin ist also ein kollektiv orientierter Nationalist, ganz nach der Definition Orwells.
Denn zu einem Nationalisten gehört gemäss diesen Kriterien auch die Unfähigkeit, auf kritische Urteile über die eigene nationale Grösse mit einer gewissen Gelassenheit zu reagieren. Solche Urteile empfindet der obsessive Nationalist sofort als Kränkung und Beleidigung. Er fühlt sich nicht angemessen respektiert. Diese ständig empfundene ungenügende Würdigung der eigenen Überhöhung verweist darauf, dass der Nationalist im Kern unsicher ist, dass ihn Minderwertigkeitsgefühle plagen. Auch in dieser Hinsicht verbindet Trump und Putin einiges an inneren Gemeinsamkeiten.
Die amerikanische Historikerin Jill Lepore, die zurzeit mit ihrem fulminanten Buch über die Geschichte der USA («These Truths») Furore macht, bringt den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus auf folgende prägnante Formel: «Patriotismus ist von Liebe beseelt, Nationalismus von Hass». Man kann es auch so ausdrücken: Der Nationalismus ist die pathologische Form des Patriotismus.
Gottfried Kellers Rat
Nun gibt es allerdings vermeintlich progressive Ideologen, die auch den Begriff des Patriotismus oder die mit ihm inhaltlich nah verwandte Heimatliebe verdächtig finden. Das wird damit begründet, dass skrupellose Demagogen diese Begriffe in der Vergangenheit übel missbrauchten. Sie werden auch in unseren Tagen durch selbsternannte Exklusiv-Patrioten (Heimattümelei) einseitig instrumentalisiert. Doch durch solche Missbräuche sollte man sich das Bekenntnis zum Vaterlands- und zum Heimatbegriff nicht ausreden lassen. Man muss dabei nur eine klare Abgrenzung zum verbissenen Nationalismus und zur identitären Sektiererei im Auge behalten.
Der Publizist Hans Widmer hat unlängst in einem Essay in der NZZ über das emotionale Urbedürfnis auch des modernen Menschen nach Heimat den schönen Satz von Gottfried Keller im «Fähnlein der sieben Aufrechten» zitiert: «Achte eines jeden Mannes Vaterland, aber das deine liebe.» Weltbürgertum und Patriotismus schliessen sich nicht aus.
*George Orwell: Über Nationalismus, dtv, München 2020