So können solche Jugendlichen zu Hause auf den fortgesetzten Service durch die Eltern bestehen, wollen keine Verantwortung für sich und die Familie übernehmen und leiden gleichzeitig unter der Angst, in der Gesellschaft als Erwachsene nicht ernst genommen zu werden. Manche profilieren sich in solchen familiären Konstellationen in Kämpfen, die sich in Feldern ausserhalb der Familie abspielen, dies ganz besonders, wenn sich die Eltern als kampfunwillig, harmoniebedürftig und allzu nachgiebig erweisen. Dazu folgende Geschichte:
Zugleich Vater und Mutter sein
Frau Weber sah durchs Küchenfenster ihrem Sohn Sascha nach, der das Haus soeben mürrisch verlassen hatte. Sie war schon an der Zubereitung des Nachtessens und hatte ihn gebeten zu bleiben. Seine Antwort blieb unverständlich und vielleicht wollte sie sie auch nicht verstehen. Auf der Strasse zog er sich die Kapuze seiner schwarzen Jacke über, was nichts Gutes verhiess. An der Bushaltestelle, die sie gerade noch einsehen konnte, wenn sie sich nahe ans Fenster stellte, wurde er von zwei ebenfalls schwarz gekleideten Kollegen erwartet. Der einzige farbige Tupfer im Bild war ein Mädchen, welches eine Eisenstange aus einem Papier wickelte und diese Sascha überreichte.
Frau Weber hatte Angst um Sascha. Seit sich ihr Mann von ihr trennte und nichts mehr von ihnen wissen wollte, hatte sie ihn alleine erzogen. Sascha besuchte damals den Kindergarten. Mit dem Vater hatte er auch zuvor wenig Zeit verbracht, doch bewunderte er den starken Mann und vermisste ihn lange Zeit. Sie wollte Sascha Vater und Mutter sein und versorgte ihn mit doppelter Zuwendung. Sascha vertraute ihr, kuschelte gerne und gab ihr gefühlsmässig einiges von dem, was nach dem Wegzug des Mannes fehlte, zurück. Sie verbrachten schöne Jahre zusammen.
Zurückweisung
In den letzten Jahren hatte sich die Beziehung jedoch schrittweise verändert. Sascha wies ihre Zuneigung oft zurück, beschimpfte sie manchmal und verheimlichte ihr, was er unternahm und mit wem er verkehrte. So war das auch an diesem Abend. Frau Weber ass alleine und bewahrte die Resten für ein weiteres Essen auf. Der Abend würde wohl lange werden, weil Sascha an einem Fussballmatch teilnehmen wollte. Früher hatte er noch selber Fussball gespielt, doch setzte er sich heute als Fan für eine Mannschaft ein und geriet häufig in Auseinandersetzungen mit den Fans der gegnerischen Mannschaft.
Sie begann, die Wohnung sauber zu machen, räumte die Küche auf, liess sich vom Fernsehprogramm vorübergehend ablenken, bereitete für Sascha einen Penne-Salat zu, den sie mit etwas Rohschinken anreicherte, weil er das besonders gerne mochte. Dabei bemerkte sie, dass sie kaum noch Plastikvorratsgefässe hatte, weil Sascha diese häufig am Arbeitsplatz liegen liess. Er verbrachte den Tag als Maurerlehrling auf dem Bau und hatte stets grossen Hunger. Um kostspieliges Auswärtsessen zu vermeiden, bereitete ihm die Mutter täglich am Vorabend ein Mittagessen, das er jedoch manchmal zu Hause liegen liess. Die Gründe dafür konnte sie mit ihm nie klären. Auf Nachfragen reagierte er unwillig, wurde manchmal unfreundlich und stiess sie zurück, wenn sie ihn in die Arme nehmen wollte.
Späte Rückkehr
Sascha kam um zwei Uhr morgens nach Hause. Die Mutter war im Wohnzimmer eingenickt, erwachte jedoch bereits, als sie seine schweren Schritte im Treppenhaus hörte. Er hatte wohl zu viel getrunken. In solchen Situationen war sie sich stets unsicher, ob dies zur Mannwerdung gehöre oder ob sie vielleicht in der Erziehung etwas falsch gemacht habe. Dazu kam die Angst, dass Sascha so werden könnte wie sein Vater. Sascha freute sich nicht über ihren Empfang, warf seine Jacke bei der Garderobe zu Boden, stapfte in sein Zimmer und legte sich verschwitzt und stark riechend in den Kleidern aufs Bett und wollte schlafen. Die Mutter war kurz verwirrt, doch überwog das Mitleid. Sie half ihm aus dem T-Shirt, setzte sich aufs Bett und massierte sanft die verspannten Rückenmuskeln. Sascha wollte nicht sprechen, doch drückte er seinen Kopf an ihren Körper. Sie hatten sich wieder gefunden. Bald schlief er ruhig und tief.
Frau Weber nahm seine Jacke vom Boden auf. Da waren erdige Spuren von nasser Wiese, Staub einer gekiesten Fläche und am linken Ärmel Blutflecken zu sehen. Sie war froh, dass Sascha unversehrt war und setzte die Waschmaschine in Gang. Er sollte am nächsten Tag mit einer sauberen Jacke an der Arbeit erscheinen.
Neue Nähe
Nach wenigen Stunden Schlaf sprang Sascha etwas verspätet, doch erholt auf, duschte nur kurz und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Er kam nie zu spät und das sollte auch heute so sein. Sein Chef lobte ihn häufig für seinen Einsatz und auf seine Firma liess Sascha nichts kommen. Sie waren das beste Team auf jeder Baustelle. Die Mutter hatte ihm ein Frühstück mit gesunden Apfelschnitzen hingestellt, das er stehen liess. Die morgendliche Zigarette auf dem Weg zum Bus war ihm wichtiger und am Kiosk kaufte er sich einen Energy-Drink. Die Mutter räumte später leicht gekränkt das Frühstücksgeschirr weg und tröstete sich mit den Apfelschnitzen. Sie freute sich über die Zuverlässigkeit ihres Sohnes und ganz besonders gerührt war sie, als sie bemerkte, dass er das vorbereitete Mittagessen trotz seiner Eile mitgenommen hatte.
Frau Weber litt zunehmend unter der ablehnenden Haltung ihres Sohnes, der zwar zwischendurch weiterhin ein liebes, anhängliches Kind war, sie jedoch immer häufiger beschimpfte und auf diese Art Distanz schaffte. Nachdem sie einige psychotherapeutische Sitzungen in Anspruch genommen hatte, gelang es ihr im Zweipersonenhaushalt, Klarheit zu schaffen. Sascha sollte sein Zimmer selber aufräumen, die schmutzige Wäsche fortlaufend im Waschkorb deponieren und sich sein Mittagessen am Abend vorher selber zubereiten. Ausserdem wollte sie informiert werden, wo er hingeht und wann er zurückzukehren gedenkt. Sascha nahm die Forderungen staunend entgegen. So kannte er seine Mutter nicht. Er hegte grollend den Verdacht, dass sie sich hatte beraten lassen, und er sie nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Der Mutter fiel es nicht leicht, ihre neue Rolle durchzuhalten und Sascha versuchte mehrmals mit Charme oder Schimpfen, sie zu früherem Verhalten zurückzubringen. Sie benötigte noch einige psychotherapeutische Sitzungen, um standhaft bleiben zu können. In der Folge ergaben sich bei Mutter und Sohn positive Veränderungen. Er beteiligte sich zunehmend am gemeinsamen Haushalt und erledigte seine Angelegenheiten selber, wechselte den Freundeskreis und schmiedete weitere berufliche Pläne. Sie fühlte sich etwas einsam und erstmals seit der Scheidung dachte sie daran, einen neuen Partner zu suchen. Was Sascha in jener Nacht erlebte, getraute sie sich nie zu fragen. Vielleicht erzählt er davon in einigen Jahren.