Den Grünen wird in Anbetracht ihres Pragmatismus bei der Nutzung fossiler Energien, bei den Waffenlieferungen an die Ukraine und jetzt in der Diskussion über die Kernkraft die Aufgabe von Prinzipien vorgehalten. Dieser Vorwurf beruht aber auf falschen Voraussetzungen.
Mal zustimmend, mal hämisch kommentieren politische Beobachter, dass in Anbetracht der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Energiekrise der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck den Rückgriff auf Kohlekraftwerke billigt. Und seit Ausbruch des Krieges setzt sich nicht nur die grüne Aussenministerin Annalena Barbock für Waffenlieferungen an die Ukraine ein. Als Robert Habeck nach seiner Ukraine-Reise im vergangenen Mai eine solche Möglichkeit ins Gespräch brachte, wurde er noch schrill zurückgepfiffen.
Bruch mit Prinzipien?
Beobachter, aber auch Teile der Basis der Grünen sehen in der Hinwendung zur erneuten Nutzung fossiler Energien, den Waffenlieferungen und der vorsichtigen und durchaus kontroversen Diskussion um eine zeitweilige Laufzeitverlängerung, «Streckbetrieb» genannt, der verbliebenen drei Atomkraftwerke einen Bruch mit geheiligten Prinzipien der Grünen. Habeck, Baerbock und andere treten bei diesen Auseinandersetzungen so defensiv auf, als hätten sie selber ein schlechtes Gewissen. Geradezu entschuldigend machen sie den Umstand geltend, dass sie in der Regierung sind und deswegen nun einmal nicht anders können.
Es täte den Grünen, aber auch den stets schnell urteilenden Kommentatoren gut, gründlicher über Prinzipien nachzudenken. Denn Prinzipien fallen nicht von Himmel, sondern sie entstehen unter ganz bestimmten Umständen. Man versteht diese Prinzipien nicht, wenn man sie von den Bedingungen löst, unter denen sie formuliert worden sind.
Waffengeschäfte
Schon an dem Thema der Waffenlieferungen zeigt sich die Macht der veränderten Umstände. Die Bundesrepublik Deutschland ist einer der grössten Waffenexporteure der Welt. Das hängt mit der heimischen Rüstungsindustrie zusammen, die natürlich weit mehr produziert, als sie an die Bundeswehr oder die Nato-Verbündeten verkaufen kann. Also wird in viele Länder dieser Welt geliefert, zumal an die besonders zahlungskräftigen. Das gefällt auch manchen sozialdemokratischen oder christlich-sozialen Politikern nicht. Also hat man eine Begrenzung eingeführt, die darin besteht, dass keine Waffen in Spannungsgebiete – was auch immer das heissen mag – geliefert werden. Dieser Grundsatz wurde natürlich ganz besonders von den Grünen favorisiert.
Im Ukraine-Krieg geschieht jetzt scheinbar das Gegenteil: Die Grünen sind für Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet. Diese Art der Waffenlieferung hat aber nichts mit dem zu tun, was die Grünen jahrzehntelang abgelehnt hatten. Denn es geht nicht um Geschäfte der Rüstungsindustrie, sondern darum, dass sich ein Land verteidigen kann, das überfallen wurde. Zudem geschieht dies im Zusammenhang der Nato, deren Mitglied Deutschland ist und deren Politik Deutschland in diesem Fall mitträgt. Es geht also um etwas völlig anderes als um Geschäfte, die die heimische Rüstungsindustrie am Laufen halten.
Der Rückgriff auf fossile Energieträger verletzt ebenfalls keine Grundsätze. Denn die Grünen haben nie gefordert, jedwede Stromerzeugung mittels der Verbrennung von Kohle sofort zu unterbinden. Es gab immer Übergangsfristen. Bei der Berechnung dieser Fristen spielten immer auch Abschätzungen eine Rolle, ab wann die alternative Energieerzeugung in der Lage ist, die bisherigen Energieträger zu ersetzen. Der Ukraine-Krieg und die Energiepolitik Russlands haben diese Berechnungen über den Haufen geworfen. Wenn die Grünen sich in diesem Zusammenhang anpassen, bedeutet das nicht, dass sie ihre grundsätzlichen Überzeugungen nun ebenfalls über den Haufen werfen.
Weichenstellung
In Bezug auf die Atomkraft sehen manche Beobachter und Mitglieder der Grünen die Partei auf einem Weg in die Hölle, der mit jedem Schritt zu immer noch grösseren Qualen führt. Doch auch hier sollte die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung mitbedacht werden. Als in den 1970er Jahren die Proteste aufflammten und der Widerstand wuchs, wurde die Kernkraft von den Befürwortern wie das Ei des Kolumbus gesehen. Sie wurde, wie man heute sagen würde, geradezu idealisiert und sollte die bisherigen konventionellen Arten der Stromerzeugung mit allen ihren Nachteilen weitgehend ersetzen. Erst nach und nach drangen die mahnenden Stimmen von Physikern, Ingenieuren, aber auch Gesellschaftswissenschaftlern durch, die vor den technischen und gesellschaftlichen Risiken eindringlich warnten.
Die Grünen waren massgeblich daran beteiligt, dass sich Deutschland gegen die Kernkraft entschieden hat. Wenn jetzt in Anbetracht einer völlig unerwarteten Veränderung der energiepolitischen Situation über eine minimal verlängerte Laufzeit vorhandener Atomkraftwerke diskutiert wird, handelt es sich nicht um eine Grundsatzdebatte über Kernenergie. Es geht nicht darum, den Ausbau der Windkraft oder der Solarenergie zu stoppen, um zur Kernkraft zurückzukehren. Vielmehr wird versucht, in Zeiten des Energiemangels alles Erdenkliche zu tun, um Schäden für die Bevölkerung, aber auch für Industrie und Wirtschaft abzuwenden oder zumindest so gering wie möglich zu halten. Als in Deutschland gegen die Atomenergie protestiert wurde, gab es diese Not nicht und es wurde mit Recht gefragt, welche Weichen für die Energieerzeugung der Zukunft gestellt werden sollen. Das ist aber heute völlig anders.