Die Diskussionen um den Ukraine-Krieg sind wieder intensiv geworden. Aus gutem Grund. Dieser Krieg ist ein zeitprägendes Ereignis. Er erinnert alte Fragen unter ihrem gegenwartstypischen Aspekt: Was ist der Krieg nach seinen allgemeinsten Begriffen? Wie verschärft sich ihr Sinn durch die Tatsache nuklearer Waffen? Inwiefern gehört das Wesen des Krieges unauflösbar zur «condition humaine»?
Clausewitz’ berühmte Abhandlung «Vom Kriege» beginnt mit einer ersten Definition: «Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.» Zunächst ist Krieg nichts anderes als eine mit allen (Gewalt-)Mitteln geführte, blutige Kraftprobe; begründet durch den Willen, ein Ziel gegen einen anderen Willen durchzusetzen; eine erbarmungslose Wette, die die Einschätzung der eigenen und der fremden Potentiale zur Voraussetzung hat. So gesehen ist der Krieg immer auch Einsatz in einem Kalkül unter Ungewissheit: Die Frage ist stets, wie die Gegenseite reagieren kann und antwortet. Dem entsprechend folgert Clausewitz, dass sich aus dieser Konstellation der wechselseitige Zwang zur Eskalation der einsetzbaren Mittel ergibt.
Gleichungen mit zu vielen Unbekannten
Jeder steigert seinen Einsatz im Mass, wie der andere ihn steigert – und wo möglich ein Stück darüber hinaus; bis zum Äussersten, zum Krieg mit allen Mitteln. Was im Atomzeitalter heisst, dass existierende Atommächte – wenn sie sich in einem Krieg unmittelbar gegenüberstehen – von Anfang an (oder jedenfalls sehr bald) mit der thermonuklearen Schwelle und den Konsequenzen ihrer Überschreitung konfrontiert sind.
Scheinbar unbewegt über diese Dinge und das Grauen, das mit ihnen verbunden ist, nachzudenken, ist schwer zu ertragen, gleichwohl unabweisbar, versucht man zu verstehen, was Kriege verhindern kann oder wenigstens dazu führt, sie auch einmal zu beenden.
Kriege sind sehr bald für alle Seiten Gleichungen mit (zu) vielen Unbekannten. Die entscheidenden Umstände und Zufälle, die die Variablen künftig erfüllen, sind nie wirklich zu berechnen; oft je länger der Kampf dauert, umso weniger. Es sei denn die Erschöpfung der Kräfte auf der einen oder auf allen Seiten ist eindeutig.
Bidens Einsatzbereitschaft und Vorsicht
Oder man verfällt der «Logik des Irrsinns»; was als Möglichkeit auch in der aktuellen Lage des Ukrainekrieges zu bedenken ist. Jedenfalls dann, wenn man zur Führung einer Atommacht gehört.
Die USA sind sich dieser Verantwortung immer bewusst gewesen. So ist es nicht überraschend, dass der hochangesehene Harvard-Politologe Graham Allison schon ein paar Wochen nach Ausbruch des Ukraine-Krieges an die «siamesische Pointe» erinnert hat: «Putins Verhalten ist ungeheuerlich. Zugleich ist er aber der Anführer einer nuklearen Supermacht mit einem Arsenal, das imstande ist, jeden Menschen in den USA und Europa zu vernichten. Wenn zwei Staaten über ein solches Arsenal verfügen, dann kann der eine den anderen zwar angreifen und zu entwaffnen versuchen, aber der andere ist immer noch in der Lage, seinen Rivalen auszulöschen. Es ist die Lektion des Wahnsinns. Oder, wie ein grotesker Vergleich lautet: Wir sind wie siamesische Zwillinge, von denen keiner den anderen erwürgen kann, ohne Selbstmord zu begehen.» (aus: Der Spiegel, Nr.21, 2022, S.76)
Ein zentraler Punkt von Präsident Bidens Unterstützung der Ukraine ist daher die Bedingung, dass kein US- oder NATO-Soldat einen Russen tötet und umgekehrt; ein dritter Weltkrieg wäre die nicht auszuschliessende Nebenfolge. Bidens Vorsicht ist nicht weniger begründet als seine entschiedene Bereitschaft, den Erhalt einer souveränen Ukraine zu sichern. Doch für wie lange hält diese Garantie? Solange er Präsident ist? Und wenn er nicht mehr gewählt wird? – Überlegungen, die nicht leiser werden, solange der Krieg nicht aufhört.
Die wichtige Ressource Zeit
Die Ressource Zeit ist einer der wichtigsten Faktoren jeder Kriegsplanung und -führung. Das betont Clausewitz an vielen Stellen. Er weiss, wie die Operationsdauer im «Nebel des Krieges» immer schwerer fassbar und berechenbar wird. Und gemäss der Strukturlogik einer Gleichung mit (zu) vielen Unbekannten verändert der Verlauf der Auseinandersetzung auch die ursprünglichen Vorgaben. Konstant bleiben sie jedenfalls kaum; was sogleich mit Rückwirkungen auf die Argumentation verknüpft ist, die die je nach der Entwicklung des militärischen Geschehens veränderten Zielsetzungen betrifft: Diejenigen, die dann für ein Nachdenken über die mögliche Beendigung der Kämpfe eintreten, werden von ihren Kontrahenten als Defätisten beschimpft, während sie sich selbst als Realisten beurteilen. Mit der Konsequenz, dass sie die Annahmen der anderen Seite für den illusionären Ausdruck mitleidloser Fanatiker halten. Fast zwingend entwickelt sich eine Rhetorik böser Verdächtigungen.
Das lässt sich heute beobachten, da die Ressource Zeit für den Westen eher kleiner werden könnte, während sie für Putin noch recht gross zu sein scheint. Die Worte werden heftiger: «Meinst du etwa mit Hitler (=Putin) könne man Frieden machen?!»; die Prognosen rabiater: «Die Zeit für den Tod des russischen Imperiums ist jetzt gekommen!»; usw.
Das weiter zu erörtern ist hier nicht das Thema, sondern die nüchterne Feststellung, dass Kriege – zunächst und in aller Regel – nicht «gerecht» enden; wer immer das Gerechte definieren mag. Sie enden dann, wenn die Energien von mindestens einer der Parteien erschöpft sind.
Zuerst: ein kalter Friede
Ideale, der Glaube, für die richtige Sache einzustehen, die moralische Überzeugung, den Feind besiegen zu müssen, um dem Bösen Einhalt zu gebieten, sind zwar wichtige Elemente der Kampfkraft einer Partei, entscheidend ist jedoch nicht deren normative Berechtigung, sondern das simple Faktum, ob sie sich gegen die andere Seite und deren Absichten durchzusetzen vermochte. Das ist die bittere Wahrheit dessen, was man «Realpolitik» nennt.
Damit ist allerdings nur der erste Schritt getan, will man verstehen, wie so etwas wie nachhaltiger Frieden in einer Welt schärfster Gegensätze, sozialer Ungleichheiten und ethischer Widersprüche überhaupt möglich sein kann. Denn ein Frieden, der einzig aus überlegener Waffengewalt rührt, hält nur solange, wie diese Überlegenheit besteht. Das stimmt, ändert jedoch nichts an der Einsicht, dass es zuerst einen kalten Frieden – einen Nicht-Krieg – braucht, um den Weg frei für Prozesse der Verbesserung zu machen, die unter Kriegsbedingungen von vornherein ausgeschlossen sind. Das zu bedenken ist auch im Fall des notwendigen Krieges gegen den schändlichen Imperialismus von Putins Russland nicht überflüssig.
Der schon zitierte Graham Allison zielt darüber hinaus noch auf einen weiteren Punkt, wenn er ohne Furcht vor Defätismusklagen konstatiert, dass die sofortige Beseitigung des Putinregimes kein sinnvolles Kriegsziel sein kann: «So böse, so dämonisch, so gefährlich Russland (jetzt) sein mag – (wir) müssen versuchen, einen Weg zu finden, mit ihm zu leben.»
Im Zeitalter des möglichen Krieges mit Atomwaffen verfügt jeder politische Schurke, der sie besitzt, über eine Option, die ihm in der direkten Konfrontation die Garantie einer ultimativen Unbesiegbarkeit verschafft. Wie ist ihr zu begegnen, wenn man letzten Endes nicht doch zum Verlierer werden will?
Wille zum entschlossenen Widerstand gegen den Angreifer
Die Antwort ist klar und wird derzeit am Beispiel der angegriffenen Ukraine geliefert. Erstens braucht es den Willen und das Vermögen zum entschlossenen militärischen Widerstand, der für den Angreifer selbst zum risikoreichen Verhängnis werden kann. Zweitens schliesst im Atomzeitalter diese Bedingung für alle, die an die Werte der liberalen Demokratie glauben, die notwendige Fähigkeit ein, die Androhung eines feindlichen A-Waffeneinsatzes mit der Gewissheit der entsprechenden Entgegnung (auf allen Sprossen der Eskalationsleiter) zu kontern. Die Logik des Irrsinns verlangt Zweitschlagspotentiale, die jeden Erstschlag in Schach halten können. Das ist die manifeste Wiederkehr der Situation des Kalten Krieges: das Leben «unter dem Schwert am seidenen Faden».
Nach «1989» hielten sie viele für überwunden; ein Trugschluss, wie Putin demonstriert. Er erwies sich als skrupelloser, aber falsch kalkulierender Machtspieler, der die vom Westen vielfach bewiesene Neigung, seine strategischen Interessen in gewissem Ausmass zu respektieren, missverstand und sie als Schwäche interpretierte. – Doch was bedeutet dieser Befund im Hinblick auf die Zukunft? Bildet – weil Kriege zu führen zur Natur des Menschen gehört – die atomare Apokalypse auch für alle Zukunft den Horizont des Anthropozän?
Der seidene Faden und das Schwert
Wer über den Ukraine-Krieg nachdenkt, kommt an dieser Frage nicht vorbei. Und damit an der fürchterlichen Überlegung, dass dem Druck des Schwertes der «seidene Faden» wohl nicht für alle Zeiten standzuhalten vermag. Hoffnung auf dessen Verstärkung ist aber daran zu knüpfen, dass das «Wesen des Menschen» nicht einfach auf Selbstzerstörung festgelegt ist. Sonst wäre die humane Spezies wohl schon längst ihrem besonderen Talent erlegen, die eigene Art zu töten. Soll heissen: Das «animal rationale» ist nicht zuletzt das Lebewesen, das in einzigartiger Weise kollektiv zu lernen versteht.
Im Blick auf den Ukrainekrieg ist daher ein Fazit möglich. Zuerst das Generelle: Erstens ist «Krieg» immer mit der intrinsischen Gefahr verbunden, sich in einer Weise zu steigern, dass die anfänglichen Ziele, die ihn politisch beherrschen sollten, verloren gehen. Einen Krieg zu beginnen, ist sehr viel leichter, als ihn zu beenden. Zweitens ist diese Eskalationsdynamik im Zeitalter der Atomwaffen von besonderer Gefährlichkeit und bringt ein grundsätzlich neues Moment in die Wirklichkeit des Politischen – «Die Logik des Irrsinns» oder: Wer den atomaren Erstschlag riskiert, stirbt als Zweiter. Dieses Wissen kann mindestens im Verhältnis der Atommächte den «Grossen Krieg» verhindern. Doch – und das ist die dritte Einsicht – das stimmt nur dann, wenn keine der involvierten Parteien daran zu zweifeln vermag, dass der Kontrahent militärisch und moralisch entschlossen ist, auf jeder Eskalationstufe angemessen zu reagieren.
Welche Sicherheitsgarantien für die Ukraine?
Bezogen auf den Krieg in der Ukraine besagt das wiederum dreierlei: Erstens muss der Westen bereit sein, den russischen Angriffskrieg zu stoppen. Das heisst zweitens, dass die Furcht vor dem Einsatz von A-Waffen ihn nicht daran hindern darf, auch Waffen in die Ukraine zu liefern, die Putins Truppen noch empfindlicher als bisher treffen. Das meint allerdings nicht, dass man das unrealistische Ziel verfolgen sollte, die volle Souveränität der Ukraine, wie sie vor 2014 bestanden hat, wieder herzustellen. Aber es bedeutet drittens, dass es mindestens darum geht, sowohl einen einigermassen belastbaren Waffenstillstand herzustellen, wie auch darum, die Ukraine mit Sicherheitsgarantien auszustatten, die zwar keine offizielle Nato-Mitgliedschaft implizieren, aber so ausgestaltet sind, dass eine neuerliche Aggression auf den Einsatz von bisher nicht eingesetzten Nato-Mitteln (etwa für die Sicherung des Luftraumes) stossen würde.
Das ist gewiss noch kein Frieden (und nicht einmal ein kalter Frieden), aber eine Situation, die die unmittelbaren Gefahren beseitigt und am Ende mehr Vorteile für die immer noch als eigener Staat existierende Ukraine besitzt als für Putin, der über das 2014 eroberte Gebiet hinaus nicht sehr viel gewonnen, aber sein Land in vielfacher Hinsicht in Schwierigkeiten gebracht hat. – Der seit Jahrzehnten bestehende Waffenstillstand auf der koreanischen Halbinsel zeigt übrigens, dass selbst ein (stabilisierter) Nicht-Krieg die Chancen ziviler Verhältnisse sehr different verteilt.
Eine neue Stufe der kulturellen Evolution?
Die am Schluss zur Sprache gekommene Frage – die Erwägung, wie lang der «seidene Faden» wechselseitiger Vernichtungsdrohung überhaupt halten kann – ist mit diesen Überlegungen freilich nicht beantwortet. Nach Jahrzehnten ihrer Verdrängung ist sie wiederum so dringlich geworden wie in der Zeit des Kalten Krieg.
Sie zu stellen, heisst die Frage nach der Zukunft der Menschheit zu stellen.
Der Lernschritt, den das Atomzeitalter zu tun erfordert, reicht nun aber so weit in die Fundamente menschlicher Antriebe und Verhaltensprogramme hinein, dass ihn zu schaffen nicht weniger als den Beginn einer neuen Stufe der kulturellen Evolution bedeuten würde. Da es nun der Fall ist, dass wir Menschen im 21. Jahrhundert noch aus anderen Gründen an diese Schwelle geraten sind, können wir immerhin einsehen, dass das Anthropozän diejenige Epoche der Erdgeschichte ist, in der die Menschheit sich selbst restlos in die Hände gefallen ist.
PS: Vielleicht kann das hier Gesagte auch die Friedenskonferenz orientieren, die die Schweiz zu organisieren versprochen hat. (Es ist evident, dass sie ohne die Teilnahme Russlands nicht viel erreichen kann.)