Die offiziellen Ergebnisse der Wahlen in Tunesien wurden am Donnerstag bekanntgegeben. Sie bestätigen, was schon drei Tage zuvor erwartet wurde: Nida Tunes (Ruf, Stimme Tunesiens), ein von Caid as-Sibsi geleitetes Sammelbecken der säkularen Parteien, hat die Wahlen mit 85 Sitzen für ein Parlament von 217 Abgeordneten gewonnen. Die islamistische (oder islamische, je nach Einschätzung) an-Nahda-Partei kommt mit 69 Sitzen auf den zweiten Rang. An-Nahda hatte das erste 2011 gewählte Parlament, das auch als Verfassungsversammlung diente, dominiert.
Die Wahlniederlage an-Nahdas gegen Nida Tunes geht wahrscheinlich darauf zurück, dass sich die Wirtschafts- und Sicherheitslage in Tunesien während der Übergangsepoche, in der an-Nahda die Hauptverantwortung für die Regierung trug, verschlechtert und nicht – wie die demonstrierenden Massen der Tunesier erwartet hatten – verbessert haben.
Sieg der Säkularen
As-Sibsi, der 87 Jahre alt ist, unterstrich in der Wahlkampagne seine Erfahrung als Altpolitiker. Er war Aussenminister zur Zeit Bourguibas und Parlamentssprecher in einigen der dreissig Ben-Ali-Jahre. Nach dem Sturz Ben Alis trat er als eine Person mit Autorität und Erfahrung hervor, die in den stürmischen Zeiten des Übergangs Sicherheit bot. Diese Position erlaubte ihm 2012, eine neue Partei zu gründen, die als Sammelbecken der säkular ausgerichteten Tunesier und Tunesierinnen diente und dadurch zu der Formation wurde, die der damaligen an-Nahda Mehrheit die Stirne zu bieten vermochte.
In dieses Sammelbecken begaben sich auch einige der Politiker und Geschäftsleute aus der Zeit Ben Alis. Dies trug der Partei vonseiten der Enthusiasten der tunesischen Revolution den Vorwurf ein, sie bilde ein Vehikel zur Rückkehr der alten Garde aus der vorrevolutionären Zeit.
Diese Bedenken wurden bestärkt durch den Umstand, dass Nida Tunes nie eine Parteiversammlung durchführte. As-Sibsi vermied dies, weil er befürchten musste, in einer Versammlung der ganzen Partei könnten der rechte, Ben Ali nahestehende, und der linke gewerkschaftsnahe Flügel der Sammelpartei miteinander in Streit geraten. Nur gerade ihr Säkularismus bot das vereinende Band. In Ermangelung einer Parteiversammlung entschied as-Sibsi von sich aus. Das Wahlergebnis zeigt, dass der Vorwurf autoritärer Parteiführung durch as-Sibsi sich nicht als ein entscheidendes Wahlargument herausstellen sollte.
Schwierige Koalitionsverhandlungen
Um eine Regierungsmehrheit zu erreichen, muss Nida Tunes eine Koalition bilden. Dies stellt die Siegerpartei vor die Wahl, entweder zu versuchen, viele kleine Parteien in eine Koalition zu bringen, die sich wahrscheinlich nur als knappe Mehrheit wird bilden lassen, oder sich mit an-Nahda, der islamischen Partei, zu einer grossen Koalition zusammenzuschliessen.
An-Nahda hat sich bereiterklärt, eine grosse Koalition zu bilden. Doch die ersten Aussagen von as-Sibsi zeigen, dass er wahrscheinlich versuchen wird, eine Koalition ohne an-Nahda zustande zu bringen. Er liess verlauten, eine Koalition mit den Islamisten gehe gegen die Natur von Nida Tunes.
Ein «Berlusconi» und die Volksfront
Für eine von Nida Tunes angeführte Koalition ohne an-Nahda stehen zur Verfügung: 16 Parlamentssitze, die UNL erlangt hat. «Union Nationale Libre» ist die Partei von Slim Riahi, eines schwerreichen Geschäftsmannes, der neu in die Politik eingetreten ist. Er verdankt seine Popularität einem Fussballclub, den er finanziert, und einer eigenen Fernsehstation. Man hat ihn schon als den Berlusconi Tunesiens bezeichnet. Sein Geschäftszentrum ist London. Sein Name wird auch als der eines möglichen Präsidenten gehandelt. Doch seine 16 Sitze allein genügen nicht für eine Koalitionsmehrheit mit Nida.
15 weitere Sitze hat das Linksbündnis erlangt, das sich Volksfront nennt. Dies ist die Parteienverbindung, die im Jahr 2013 zwei Parlamentsmitglieder durch Morde verloren hat. Als Mörder gelten islamistische Extremisten. Die beiden Mordtaten führten zu einem monatelang andauernden Boykott des Parlamentes, zu Strassendemonstrationen und scharfen Protesten der säkular ausgerichteten Tunesier gegen die damalige islamische Mehrheitspartei und ihre regierende Koalition, bis schliesslich an-Nahda den Protesten nachgab und die Regierungsmacht einer technokratischen Übergangsregierung überliess.
Dieses Technokratenkabinett unter Ministerpräsident Mehdi Jomaa hat das Land dann bis zu den nun ausgetragenen zweiten demokratischen Wahlen geführt. In kürzlich erfolgten Umfragen erlangte Jomaa unter allen Politikern am meisten Zustimmung. Die linke Volksfront (FP Front Populaire), die von Politikern angeführt wird, welche die ganze lange Zeit der Diktatur Ben Alis prinzipientreu überdauert haben, dürfte schwerlich zusammen mit der Partei des Milliardärs Riahi in einer Koalition zu vereinen sein.
Die fünftgrosse Partei heisst Afek Tunis, sie gilt als liberal und könnte sehr wohl mit Nida Tunes zusammengehen. Doch sie verfügt nur über acht Parlamentssitze. Die verbleibenden 24 Sitze sind aufgespalten unter 12 kleine Parteien.
Vor der Präsidentenwahl
Das Gesamtbild zeigt, dass es für as-Sibsi nicht leicht sein wird, unter Ausschluss von an-Nahda eine solide Koaltionsmehrheit zustande zu bringen. Beobachter glauben, dass die Verhandlungen lange dauern werden; wahrscheinlich, so sagen sie, über den Termin des 23. November hinaus, an dem die Präsidentenwahl bevorsteht.
As-Sibsi gehört zu den Kandidaten auf die Präsidentschaft. An-Nahda hat darauf verzichtet, einen eigenen Kandidaten aufzustellen und plant, einen Gemeinschaftskandidaten mit anderen Gruppen zu unterstützen. Doch wer das sein wird, steht noch nicht fest. Man sieht, die Fragen der Präsidentwahl dürften sich ihrerseits auf die Koalitionsverhandlungen auswirken.
Eine Stimme aus Tunis
Abschliessend sei hier der Kommentar einer Frau zitiert, die die Wahlen in Tunesien verfolgt hat. Sie ist eine Leserin des «Guardian» und kommentiert die Wahlen zusammen mit 130 anderen Stimmen, alle viel weniger relevant als die ihre. Sie schreibt ein idiomatisches Englisch und zollt der Ruhe und Disziplin Lob, die in den Wahlen vorherrschten. Sie hebt die Rolle hervor, die die Frauen dabei spielten. Dann fährt sie fort:
«Die wichtigste Frage ist jetzt, wie diese beiden Parteien zusammenarbeiten werden: als Koalitionsregierung; als Mehrheit und Opposition; oder nochmals mit einer Technokratenregierung. Wir brauchen praktische Lösungen für dringliche Wirtschaftsprobleme, besonders für den herabgewirtschafteten staatlichen Fonds für Subventionen; zur Kontrolle der aufflammenden Inflation und der Arbeitslosigkeit; um Investoren zurückzubringen usw. Dies ist, wo Nida und Nahda zeigen sollten, ob sie es ernst meinen, unter Verzicht auf ihre langweiligen ideologischen Streitereien.»