Der libanesische Staatspräsident Michael Aoun hat Frankreich ersucht, bei der Aufdeckung der Hintergründe der verhängnisvollen Explosionen vom Mittwoch im Beiruter Hafen zu helfen. Wie Aoun vor Journalisten erklärte, hat er den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der als bisher einziger führender ausländischer Politiker sofort nach Beirut gekommen war, darum gebeten, Paris möge den libanesischen Behörden Satelliten- und Luftaufnahmen von der Gegend des Beiruter Hafens zur Verfügung stellen. Libanon möchte so herauszufinden, ob die Detonationen – bei denen über 150 Menschen umkamen, mehr als 5000 verletzt wurden und grosse Teile der libanesischen Hauptstadt zerstört oder doch schwer beschädigt wurden – vielleicht durch Raketen oder von feindlichen Flugzeugen verursacht worden waren.
Schlamperei, Korruption und Niedergang
Offizielle libanesische Sprecher hatten bereits unmittelbar nach den verhängnisvollen Explosionen erklärt, es habe sich hier um „explosive Materialien“ gehandelt, die bereits seit Jahren – genauer: seit 2013 – unter unsachgemässen Bedingungen in einem Lagerhaus gespeichert gewesen seien. Zuvor hätten die Behörden sie an Bord eines russischen Frachters beschlagnahmt und an Land gebracht.
An dieser Darstellung hat sich auch Tage danach grundsätzlich nichts geändert. Inzwischen steht fest, dass es sich hier vor allem um beschlagnahmtes Ammoniumnitrat gehandelt hat. Ungeklärt ist bisher allerdings, wie dieses Material, das weltweit zur Herstellung von Düngemitteln eingesetzt wird, sich mit solch katastrophalen Folgen entzünden konnte. Die Verhaftung von über einem Dutzend Beamten der Hafen- und Zollverwaltung sowie die Verhängung von Hausarrest über andere scheint ebenfalls zu bestätigen, dass die Ursachen „hausgemacht“ und im schlampigen Umgang der zuständigen Behörden mit der Beschlagnahme und Lagerung des gefährlichen Materials zu suchen sind.
Dass Michel Aoun jetzt auch nur den Verdacht offen anspricht, die Hölle des Hafens von Beirut könne von aussen entfacht worden sein, dürfte seine Ursache hingegen in der desolaten innenpolitischen Situation des Landes haben. Diese schlägt sich seit langem in einer immer schlechteren Wirtschaftslage nieder, zudem in politischen und militärischen Spannungen mit Syrien und Israel sowie im Jahrzehnte alten Dickicht der Clans und Religionsgruppen samt deren Korruption und Machtmissbrauch.
Es könnte deswegen sein, dass Aoun zu seiner „Vermutung“ verleitet wurde, um von all diesen Problemen abzulenken. Er wäre dafür auch besonders gut geeignet: Der inzwischen 85-jährige Präsident ist zwar – wie die Verfassung, der Nationalpakt von 1943, dies vorschreibt – maronitischer Christ. Er war in den Jahren des Bürgerkrieges (1975–1990) vier Jahre lang (1984–1988) Chef der libanesischen Streitkräfte. Anschliessend wurde er aber für zwei Jahre Ministerpräsident, obwohl dieses Amt im Nationalpakt einem sunnitischen Muslim vorbehalten ist. Jahre des Exils schlossen sich an. Nach seiner Rückkehr wurde er Führer der Freien Patriotischen Bewegung, und als dieser wurde er 2016 zum Staatsoberhaupt gewählt.
Starke Position der Hizbullah
Die hierzu erforderliche Mehrheit wäre unmöglich gewesen, hätte Aoun sich nicht schon längst mit der schiitischen Hizbullah (Partei Gottes) liiert gehabt, der stärksten politischen Bewegung des Libanon. Diese verfügt allerdings auch über eine beträchtliche militärische Stärke: Die Hizbullah wurde auf Betreiben des Iran Anfang der achtziger Jahre gegründet als Zusammenschluss diverser schiitischer Gruppen. Der Iran unterstützt die Bewegung seitdem mit Waffen und Ausbildung, Hizbullah-Kämpfer haben seit Jahren auf Seiten des syrischen Präsidenten Assad gekämpft. In diversen Ländern macht man sie verantwortlich für eine Reihe von Terroranschlägen. Grund genug, die Hizbullah dort als Terror-Bewegung zu verbieten.
Gleichzeitig hat sich die Hizbullah aber auch zur politischen Partei gemausert und längst die Rolle der einst führenden Schiitenpartei Amal (Hoffnung) übernommen. Ihre militärischen Ziele hat Hizbullah freilich nicht aufgegeben: Sie weigert sich seit Jahren, ihren militärischen Zweig aufzulösen oder ihn den libanesischen Streitkräften einzugliedern. Dies macht die Bewegung zu einer Art Staat im Staat, der bis heute von massier Unterstützung durch den Iran profitiert, zum Beispiel mit grossen Mengen Waffen, darunter angeblich Abertausenden von Kurz- und Mittelstrecken-Raketen.
Letztere sind nicht für neue Auseinandersetzungen im Libanon gedacht, sondern zum Einsatz gegen den erklärten Erzfeind südlich der Grenze, Israel. Hizbullah-Führer Hassan Nasrallah hat schon vor Jahren das Ziel seiner Bewegung ausgegeben: die „Befreiung“ Jerusalems. Seit Jahren aber gibt es kaum ernsthafte Zwischenfälle mit Israel. Besonders im Südlibanon aber sind in den Ortschaften bewaffnete Hizbullah-Gruppen sowie Waffen- und Munitionslager installiert. Die Bewegung kann die dortige Bevölkerung deswegen weitgehend unter Kontrolle halten, und sie versucht das inzwischen auch in der Hauptstadt Beirut.
Bei den ersten grossen Demonstrationen dort gegen Korruption und Misswirtschaft griffen immer wieder auch Hizbullah-Milizionäre ein, um die Proteste zu ersticken. Dass die Bewegung in Beirut auch versteckte Waffen- und Munitionslager unterhalte, hat Nasrallah jetzt aber ausdrücklich dementiert. Ihm muss klar sein, dass die Bevölkerung die Existenz solcher Verstecke als besondere Gefahr betrachten würde, vor allem natürlich nach den Explosionen im Beiruter Hafen.
Innerer Wiederaufbau vonnöten
Die Beiruter Bevölkerung dürfte in diesen Stunden und Tagen andere Sorgen haben, als sich umfassende und ernsthafte Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Es wird aber nicht lange dauern, bis die Eckpunkte feststehen werden. Das Land benötigt nun dringend Hilfe zum Wiederaufbau dessen, was seit den Explosionen in Trümmern liegt. Darüber hinaus aber braucht es mehr denn je einen inneren Wiederaufbau: frei vom bisherigen Klüngel der verschiedensten Gruppen, Ethnien und Regionen. Vor allem aber: frei von äusserer politischer Einmischung.
Diese aber droht mit der erhofften Hilfe erst recht zu erstarken. Nicht gerade aus Israel, das sich ja selbst schon an unzähligen Problemen die Zähne ausbeisst. Aber die Nicht-Nahoststaaten werden früher oder später sicher jede finanzielle und wirtschaftliche Hilfe mit Einflussnahme im Land verbinden, egal, wer im November in den USA gewählt wird. Der Besuch Macrons kurz nach den Explosionen zeigt deutlich, wie wichtig der Libanon der einstigen Mandatsmacht Frankreich weiterhin ist.
Ob die EU französische Hilfe für Beirut verstärken wird, ist noch unsicher. Da ist es schon wahrscheinlicher, dass die arabischen Ölstaaten – allen voran Saudi-Arabien – zu finanziellem Engagement bereit sein werden. Diese Länder haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder durch ihre selektive Unterstützung der einen oder anderen Richtung im Libanon mit dazu beigetragen, dass das Land sich so entwickelte, wie es das tat.
Keine ermutigende Prognose. Nur eines ist klar: Aus eigener Kraft werden die Libanesen sich aus ihrer misslichen Lage kaum retten können. Jetzt noch weniger als vor den Explosionen im Hafen von Beirut.