Über eintausend Tote, über viertausend Verletzte, ungezählte zerstörte Häuser, Infrastruktur in Schutt und Asche und Tausende Palästinenser auf der Flucht, weil Israel 44 Prozent des Gazastreifens zu seiner Sicherheitszone gemacht und die Menschen dort zum Verlassen ihrer Wohnungen aufgefordert hat: Diese erneute Katastrophe trifft Menschen – und deren Nachkommen –, die in den Kriegen von 1948 und 1967 aus dem heutigen Israel geflohen sind oder bewusst vertrieben wurden.
Palästinensisches Trauma der Vertreibung
Denn, so schätzen Kenner, achtzig Prozent der etwa 1,8 Millionen Menschen im Gazastreifen sind selbst oder durch ihre Vorfahren geprägt von der Nakhba, der palästinensischen Katastrophe. Was für Israel der Sieg im von ihm so genannten Unabhängigkeitskrieg von 1948 ist, steht bei den Palästinensern für ihr nationales Trauma: die Vertreibung aus ihrer Heimat.
Die Mehrheit der in Gaza lebenden Palästinenser hat eigentlich Regressansprüche an Israel, weil diese Menschen 1948 oder im Krieg von 1967 von ihrem Grund und Boden im heutigen Israel vertrieben wurden. Diese traurige Tatsache hat jenes amorphe Gebilde, das sich internationale Gemeinschaft nennt, allerdings vollkommen verdrängt, obwohl ein Blick auf die Geschichte dieses Konfliktes leicht Aufklärung geben könnte.
Die Menschen in Gaza – im Jahre 1948 etwa 200’000, heute etwa 1,8 Millionen – sind weitgehend von der Aussenwelt abgeschnitten, nicht einmal aufs Meer dürfen die Fischer fahren, denn dort wartet die israelische Marine und blockiert den schmalen Küstenstreifen von der See aus.
Nicht genehmes Wahlergebnis von 2006
Im Jahre 2006 haben diese Menschen bei den besonders vom Westen geforderten Parlamentswahlen mehrheitlich die Hamas gewählt – nicht weil sie deren islamistisches Programm guthiessen oder gar die totale Zerstörung Israels wollten, sondern weil alle friedfertigen Versuche von Jassir Arafats PLO und der palästinensischen Autonomiebehörde, einen palästinensischen Ministaat zu gründen, von Israel boykottiert worden sind.
Der Wahlsieg der Hamas wurde weder von Israel, noch vom Westen anerkannt. Die Menschen dort hatten nicht so abgestimmt, wie man das im Westen in völliger Verkennung der Lebensumstände in Gaza (und im Westjordanland) erträumt hatte. Seit Jahren nun leben die Menschen unter einer Blockade Israels zu Land und zu Wasser. Wen verwundert es angesichts dieses undemokratischen Verhalten von Seiten des Westens, dass sich die Hamas, wie es heisst, „radikalisierte“.
Kritik an israelischem Mainstream
Es gibt wenige Israelis, welche die schlimme Lage der Palästinenser zur Kenntnis nehmen. Einer ist Professor Ilan Pappe, Autor mehrerer Bücher über Palästina – etwa „The Ethnic Cleansing of Palestine“ (2007) oder „The Forgotten Palestinians“ (2013). Ilan Pappe, inzwischen Professor an der Universität Exeter, schrieb anlässlich des eintausendsten palästinensischen Toten im neuesten Gazakrieg einen offenen Brief, indem es heisst:
„Ja, ich muss zugeben, dass die israelischen Medien und die Vertreter des israelischen Geisteslebens („Israeli Academia“) voll hinter dem Massaker stehen – von wenigen kaum hörbaren Stimmen in der unmenschlichen Wildnis abgesehen.“ Pappe meint weiter, er schreibe diese Zeilen nicht, weil er sich schäme, denn er habe sich seit langem von der Staatsideologie Israels abgewendet, und als Einzelner tue er alles, um sich dieser Ideologie entgegenzustellen und sie zu besiegen.
Dieses sei kein grosses Versprechen in diesem Moment der Trauer. Aber nichts zu tun, sei noch weniger eine Option. Heute schreibe man nicht das Jahr 1948, in dem alle israelischen Untaten verborgen gewesen seien. Heute schreibe man das Jahr 2014, in dem das Massaker in Gaza offen zu Tage liege. „Meine alte Universität, Haifa, hat viele Studenten ausgebildet, um Israels Lügen in der Welt zu verbreiten. Aber jetzt schreiben wir das Jahr 2014, und da werden die Lügen nicht lange halten“, schreibt Ilan Pappe. Und er fügt hinzu: „Erst wenn die Europäische Fussballunion Israel ausschliesst, erst wenn die akademische Gemeinschaft sich weigert, institutionelle Verbindungen zu Israel zu unterhalten, erst wenn Fluggesellschaften zögern, nach Israel zu fliegen ....“ erst dann werde Israel merken, dass es auf dem eingeschlagenen Pfad nicht weitergehen könne.
Dissens unter deutschen Juden
Ähnlich äussert sich Professor Rolf Verleger in einem Brief an die „Frankfurter Rundschau“. Rolf Verleger wurde bekannt durch sein Buch „Israels Irrweg“ und durch seinen Protest gegen die israelische Politik gegenüber den Palästinensern. Deshalb entzog die Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein Verleger sein Mandat als Delegierter im Zentralrats-Direktorium. Rolf Verleger ist jetzt Mitglied des Vereins „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost.“ Er schreibt:
„Seit 2005 ist Gaza ein grosses Gefängnis; Israel hat es verriegelt, Ägypten bewacht den Hinterausgang. Israel erlaubt Ein- und Ausfuhren nur insoweit, dass niemand verhungert. Boote dürfen nur bis drei Meilen vor die Küste fahren, den EU-finanzierten Flughafen hat Israel zerbombt. Das hat die bescheidene Industrie und Landwirtschaft ruiniert. Womit sollen sich also die Einwohner beschäftigen? Ist es so erstaunlich, dass sie Tunnel bauen, um die Gefängnismauern zu durchlöchern? Ist es so erstaunlich, dass sie versuchen, ihren Gefängniswärtern zu schaden? Das geschieht auf dem Hintergrund, dass die meisten Bewohner des Gazastreifens Nachkommen von Vertriebenen sind: Leute, die von ihren Häusern in Jaffa seit 1948 nur noch den Schlüssel haben, Menschen aus Aschkalon, die noch in den 50er-Jahren eingesammelt und per Lastwagen nach Gaza deportiert wurden. Als Weltbürger im schicken Tel Aviv würde man gerne in Frieden leben, aber die Universität ist auf den Trümmern eines vertriebenen Dorfs errichtet, und die schönen arabischen Häuser in Jaffa wurden mit Gewalt ihren Vorbesitzern weggenommen. Hat Israel je ernsthaft versucht, die Palästinenser um Verzeihung zu bitten? Ist es so erstaunlich, dass Israel auf geraubtem Land nicht in Frieden leben kann?“
Sinneswandel eines kritischen Historikers
Ilan Pappe und Rolf Verleger sind, wie Pappe schreibt, Stimmen in der Wildnis. Denn noch ist der Krieg in Gaza nicht beendet, da meldet sich ein prominenter israelischer Professor und fordert einen neuen Krieg. Es ist Benny Morris. Morris gehört zu den so genannten neuen Historikern, die erstmals die israelische Gründungslegende von der freiwilligen Flucht der Palästinenser infrage stellten. Morris schrieb erstmals auch von israelischen Verbrechen gegen die Palästinenser.
Sein Buch „The Birth of the Palestinian Refugee Problem 1947-1949“ (erschienen 1989) hat seinerzeit breite Diskussionen hervorgerufen. Es stellte auch die Politik von David Ben Gurion, des Gründervaters Israels, in Frage. Später, angesichts vieler palästinensischer Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten, änderte er seine Meinung und sagte, 2004, in einem Interview der Zeitung Haaretz:
„Ben Gurion hatte recht. Wenn er nicht getan hätte, was er getan hat, wäre kein jüdischer Staat entstanden. (...) Ich glaube nicht, dass die 1948-er Vertreibungen Kriegsverbrechen waren. Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerbrechen. Man muss sich die Hände dreckig machen.“
Jetzt meldete sich Benny Morris erneut in der Zeitung Haaretz zu Wort (Ausgabe vom 30. Juli). Dort sagte er unter der Überschrift “Wir müssen Hamas schlagen, das nächste Mal“:
„Es scheint, dass der jetzige Krieg bereits verloren ist. Er wird in ein paar Tagen oder in ein, zwei Wochen mit einem Winseln enden – mit noch einem Waffenstillstand, der Hamas ungeschoren lässt.“ Mehr noch, Hamas werde sich als Opfer präsentieren, welches das Mitleid der Welt verdiene, sagte Benny Morris. Und deshalb werde es in ein, zwei Jahren einen neuen Krieg geben, weil Hamas sowohl den Staat Israel als auch die Juden in aller Welt vernichten wolle.
Der vom Paulus zum Saulus mutierte, eigentlich angesehene Historiker Benny Morris gehört heute sicher zum Mainstream israelischen politischen Denkens.
Die Tragödie geht weiter
Inzwischen zieht Israel, glaubt man den Angaben der israelischen Armee, seine Bodentruppen weitgehend aus dem Gazastreifen ab. Gelöst ist damit keines der Probleme. Die 1,8 Millionen Menschen, die schon so viele Kriege durchlitten haben, bekommen vermutlich nur eine Atempause – bis zum nächsten Krieg. Denn bisher deutet nichts darauf hin, dass die Blockade des Küstenstreifens gelockert oder gar aufgehoben wird und die Menschen dort ein freies Leben leben können.
Die Tragödie, die beide Völker, Juden wie Palästinenser, in Gaza heimsucht, ist von biblischen Ausmassen und von biblischer Tradition. In der neuesten englischen Internetausgabe von „Le Monde Diplomatique“ erinnert der französische Journalist Alain Gresh an die biblische Erzählung von Samson und Delilah. Schauplatz dieser Episode war Gaza, die Hauptstadt der Philister (ein Wort, von dem sich das Wort Palestinians/Palästinenser herleitet).
Samson (was auch so viel heissen kann wie „Diener Gottes“), Angehöriger des hebräischen Stammes Dan, Gefangener der Philister, nimmt alle seine Kraft zusammen, sagt, er wolle mit den Philistern sterben und zerstört das Haus der Philister, in welchem er gefangen gehalten wurde und auf dessen Dach sich, der Erzählung nach, etwa dreitausend Menschen aufhielten. „Und das Haus fiel auf alle Herren und auf all die Menschen, die darin wohnten. So waren die Menschen, die bei seinem Tod umkamen, mehr als jene, welche er in seinem Leben umgebracht hatte.“ (Buch der Richter 16, 27 ff.)
Diese Erzählung stammt etwa aus dem Jahr 1050 v. Chr.