Nationale Mythen hat jedes Land. Heimat ist ja nicht nur ein geographischer Begriff sondern enthält natürlich auch emotionale Komponenten. Ein Einwohner von Appenzell ist Innerrhödler in Herisau, Appenzeller in Zürich , Schweizer am Strand von Rimini und Europäer anlässlich der Traumreise nach Kalifornien. Heimat kann also lokal, regional, kontinental aber natürlich auch national sein. Nationale Mythen verleihen Zusammenhalt und, durchaus, ein gewisses Gefühl von Geborgenheit.
Das Verschwinden des Bankgeheimnisses
Die nationalen Mythen der Schweiz sind besonders deutlich ausgeprägt, da unser Land - im Gegensatz zu allen direkten Nachbarn und den meisten anderen europäischen Staaten - von den gewaltsamen und teilweise totaltären Verwerfungen des 20. Jahrhunderts weitgehend verschont geblieben ist. Das erklärt, warum wir tief innen weniger klar spüren, wie zentral die Friedensfunktion der EU für das Nachkriegseuropa - nach dem 2. Weltkrieg, aber auch nach dem kalten Krieg - war und weiterhin ist. Dies heute noch mehr als vor zehn Jahren in einem Moment, wo Putin den längst überholten Mythos eines imperialen Russland’ für seine Machphantasien einzusetzten scheint.
Viel weniger dramatisch, aber ebenso futil erscheint der reflexartige Rückgriff von Politik und Biertisch auf schweizerische Mythen, welchen mit Bezug auf völlig veränderte Zeit- und Sachumstände die aktuelle Berechtigung abhanden gekommen ist. Jüngstes und wuchtigstes Beispiel ist das Bankgeheimnis. Vor ein paar Jahren noch in (M)Erz gegossen, beisst sich daran heute keine ausländische Verwaltung mehr die Zähne aus, da es - von uns! - abgeschafft worden ist. Die Zeichen der Zeit hatten seit mindestens zehn Jahren klar auf den raschen Niedergang hingedeutet. Anstatt diese zu lesen, zogen wir uns ins Bankenreduit zurück. Anstatt für die frühzeitige Aufgabe eines Mythos mit rapide erodierender Basis doch noch belohnt zu werden, in casu mit freiem Marktzutritt der schweizerischen Finanzindustrie im EU Raum, haben wir ein leeres Mythos verteidigt.
Unabhängiger Schweizer Franken?
Da liegt die Gefahr der Mythen ohne Realitätsbezug. Wie in diesen Spalten vor kurzem überzeugend dargestellt wurde(Die Schweiz in der Sackgasse, 7.2.15), stehen wir zu Beginn eines ähnlichen Prozesses mit Bezug auf den unabhängigen Schweizer Franken. Dieser Mythos hatte bis zum 1.1.99, der Einführung der europäischen Einheitswährung also, durchaus noch eine Realitätsbasis. Seither aber nicht mehr, da der Franken nun als traditionelle Reserve- und Fluchtwährung neben dem Euro isoliert dasteht und bei seiner Aufrechterhaltung entweder unsere Volkswirtschaft tankt, wie seit dem 15.1.2015 oder sehr viel Papiergeld geschaffen werden muss, wie vorher bei einem von der Notenbank vorgegebenen Mindestkurs.
Ein weiteres solches Beispiel des Unterschieds zwischen Mythos und Realität liegt beim ‘autonomen Nachvollzug’. Die Anpassung schweizerischer Gesetze an EU-Gesetzgebung im Bereich Handel und Produkte also, welche nicht anzuwenden wir weder können noch wollen. Weil der schweizerische Verbraucher sonst für EU-Waren (noch) höhere Preise bezahlen müsste und schweizerische Exporte im EU-Ausland (noch) teurer wären. Auch hier haben wir die Tatsache einer geteilten Souveränität in klar umrissenen Bereichen des EU-Europas zur Kenntnis zu nehmen.
Den Mythos völliger nationaler Soveränität teilen wir übrigens mit zahlreichen andern europäischen Ländern. Auch dort will rechtsnationales Gepolter mitunter das Rad der europäischen Geschichte zurückdrehen. Im Gegensatz zum Nichtmitglied Schweiz haben aber die anderen Europäer im Rahmen ihrer EU-Mitgliedschaft gelernt, dass was früher national war mitunter zum Vorteil aller auf die kontinentale Ebene angehoben wird. Genau so übrigens, wie das die untereinander doch recht verschiedenen eidgenössischen Stände nach 1848 mit Blick auf den Bundesstaat lernen mussten. Insgesamt mit einigem Erfolg.
Neutralität und Realpolitik
Schliesslich noch zum hartnäckigsten Mythos der Schweiz, welchem die internationale Realität immer mehr abhanden kommt: Die Neutralität. Sakrileg! Die ganz grosse Mehrheit der Schweizer unterstützt doch die Neutralität welche sich im Rahmen der Ukrainekrise eben gerade wieder bewährt hat, nicht wahr?
Emotionslos ist festzuhalten, dass nicht die neutrale Schweiz, sondern der schweizerische Bundespräsident als OSZE-Präsident - unsere Präsidentschaft fiel zufällig zusammen mit dem Ausbruch der grössten Ost-Westkrise seit Ende des Kalten Krieges - dank guter Arbeit, guten Mitarbeitern (Heidi Tagliavini) und einigem Mitteleinsatz, gewisse gute Dienste leisten konnte. Schweizerische Neutralität wurde wenn überhaupt international lediglich aus Eigeninteresse angerufen. So etwa von Russland, welches von westlichen Embargomassnahmen hart getroffen wird. Embargomassnahmen, welche allein der papierenen Verurteilung von russischer Aggression auf der Krim und in der Ostukraine Zähne verleihen. Eine Verurteilung im Rahmen der OSZE, welcher sich natürlich auch der Rechtsstaat Schweiz angeschlossen hat.
Die angesprochene ‘Umfrageneutralität’ wiederum ist eine ganz andere Sache und hat mit dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Kern von völkerrechtlicher Neutralität wenig zu tun. Dies muss weiter ausgeführt werden, aber nicht hier und jetzt. Festzuhalten ist lediglich, dass auch der Neutralität die internationale Realität abhanden kommt. Die anderen traditionellen Neutralen in Europa bezeichnen sich kaum mehr als solche.
Wenn überhaupt, ist dort Neutralität primär durch Innenpolitik bedingt. Nationale Mythen haben eben ein zähes Leben. Was uns aber nicht daran hindern darf, sie immer wieder auf ihre reale Berechtigung abzuklopfen. Auch wenn’s weht tut. Immerhin: den Abfahrtsweltmeister haben wir. Den nimmt uns niemand weg, für mindestens zwei Jahre auch kein Österreicher.