Bewegung, ob langsam oder rasch, ist bei Musik ja systemimmanent; das ist eine Binsenweisheit. Dass aber bestehende, in Partituren oder anderen Notationsmethoden festgeschriebene Musik sich verändert – und zwar nicht nur während ihrer Interpretation – ist meist so genannten Bearbeitungen zuzuschreiben. Das kann auf vielerlei Art geschehen.
Aneignungen – ein stetiger Prozess
Ausserdem kann Musik auch mit bildender Kunst in Dialog treten, was nicht nur in Ausstellungshallen, sondern auch in jeder Form von Theatermusik seinen Niederschlag findet. Die Übergänge sind fliessend und haben Künstler und Komponisten (die weibliche Form ist überall mitgemeint) aller Epochen schon fasziniert. Doch innerhalb der rein musikalischen Schaffensprozesse waren Aneignungen und Überarbeitungen, welcher Art auch immer, durch alle Jahrhunderte europäischer Musiknotationen hindurch üblich und sind stetig weiterentwickelt worden.
Solche kreativen Fliess-Formen haben in Basel ein Team der hochangesehenen Paul Sacher Stiftung dazu animiert, diesen Veränderungen anhand einer grossartigen Sammlung von Musikautographen in ausgewählten Beispielen nachzugehen, deren schöpferischen Duktus aufzuspüren und auch einem nichtspezialisierten Publikum nachvollziehbar zu machen.
Die Basler Paul Sacher Stiftung
Die 1973 vom Basler Dirigenten und Kunstmäzen Paul Sacher gegründete Musikautographensammlung-Stiftung gleichen Namens (PSS) mit Schwerpunkt 20. und 21. Jahrhundert ist nicht nur Sammlungsort, sondern gleichzeitig wissenschaftliche Anlaufstelle für Musikologen aus aller Welt und als solche prädestiniert für das Aufzeigen von variablen Anordnungen und Vergleichen.
Nach den ersten drei Grossausstellungen der PSS von 1984 („Strawinsky. Sein Nachlass. Sein Bild“), 1986 („Die Musik des 20. Jahrhunderts in der Paul Sacher Stiftung“) und 1996 („Canto d’Amore. Klassizistische Moderne in Musik und bildender Kunst 1914–1935“), alle im Kunstmuseum Basel gezeigt, präsentiert sich ein faszinierender Aspekt der Sammlung derzeit im Museum Tinguely in Basel.
Der Fribourger Künstler Jean Tinguely befasste sich bei seinen beweglichen Skulpturen immer wieder mit aleatorischen Tonerzeugungen seiner Maschinen. Insofern ist die Wahl des Ausstellungsortes nachvollziehbar und logisch. Die soeben eröffnete Ausstellung trägt den Titel „RE-SET Rückgriffe und Fortschreibungen in der Musik seit 1900“, ein recht trockener Titel, der eher nach Fachtagung denn nach sinnlich erfahrbarem Ausstellungserlebnis klingt. Das ist schade, denn:
Nicht nur für Musikfreaks
Was hier in einer atemberaubenden Freizügigkeit ausgelegt, gegeneinander gesetzt und beleuchtet wird, dürfte nicht nur für Musikfreaks wie mich wieder einmal eine Chance sein, grossen und grössten Namen der Musikwelt vor allem des 20. Jahrhunderts im Original zu begegnen. Teils historische Tonaufnahmen begleiten die Exponate und den jeweiligen Themenkreis.
„An Bach glauben alle“
Insgesamt vier Bereiche bringen das Generalthema Be- und/oder Überarbeitung näher: Der erste Teil wird präsentiert unter dem Titel „Eigentümlich fremd. Komponisten im Dialog mit ihren Kollegen“. In diesen Bereich fallen unter anderem die Bearbeitungen von Johann Sebastian Bachs Ricercar à 6 aus dem Musikalischen Opfer durch Anton Webern oder Sofia Gubaidolinas Meditation über einen Bach-Choral. Denn, um mit Maurizio Kagel zu sprechen: „Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben, an Bach jedoch alle.“ Die russische Komponistin Gubaidulina zählt übrigens – wen verwundert’s – zu den ganz wenigen Frauen in der Sammlung.
Vom Abstrakten ins Konkrete
Die Komponisten selbst haben sich seit Jahrhunderten kritische Gedanken über die Rechtmässigkeit ihrer Aneignungen von Kollegen-Werken, über Stilbruch und Plagiat gemacht. Im ausführlichen Katalog zur Ausstellung, einem wahren Schatzkästlein, finden sich denn auch Zitate wie Th. W. Adornos kritische Sätze in seiner Strawinsky-Kritik: „Der böse Blick aufs Modell bannt die Musik über Musik in Unfreiheit. Sie verkümmert in der Bindung ans Heteronome ...“ Anton Webern hingegen spricht bei der Charakterisierung seiner Arbeit am Bach-Werk von einem „abstractum“, das er in ein „concretum“ überführt habe.
Solche Zitate sollen nur einen Bruchteil der Phänomene veranschaulichen, denen sich die umfangreiche Ausstellung anhand von Autographen, Photos, Zeitungsausschnitten und anderen Dokumenten widmet. In den weiteren Sälen gehen die beiden Kuratoren Heidy Zimmermann und Simon Obert unter anderem auch dem Bereich Eigenbearbeitungen nach und bleiben auch vor einem wichtigen Bereich der Sammlung nicht stehen: der Notation und Aufarbeitung von indigener Volksmusik. Der Schwerpunkt dieses Komplexes liegt natürlich bei der Sammlung ungarischer und Roma-Volksmusik durch Béla Bartok, wurde doch Bartok zu Lebzeiten immer wieder von Paul Sacher unterstützt und gefördert.
Anknüpfung an die neuen Medien
Die neuen Medien des 20. Jahrhunderts schliesslich, Film- und Tonaufnahmen, führten zu populären Adaptionen bestehender Musik. Ein bekanntes Beispiel und in der Ausstellung schön dokumentiert ist Strawinskys Zusammenarbeit mit Walt Disney zu dessen Film „Fantasia“. Der Dirigent Leopold Stokowski kürzte und bearbeitete dafür Strawinskys „Sacre du printemps“ und verschaffte dem Werk damit ungeahnte Popularität. Ein umgekehrter Vorgang – vom Populären ins Klassische – wird unter anderem mit Luciano Berios Bearbeitungen von Beatles-Songs für seine Frau Cathy Berberian, dokumentiert.
So grossartig der musikologische Aufbau der Ausstellung auch ist: Die Werkbeispiele aus der bildenden Kunst, welche das Zusammenwirken von Musik und bildender Kunst veranschaulichen wollen, wirken aufgesetzt und irgendwie kläglich unentschlossen. Auch wenn dabei der Vater des „ready made“, Marcel Duchamp, prominent im Zentrum steht. Dieser Komplex ist in seiner Breite und Faszination schon besser ausgeleuchtet worden.
Bis 13. Mai 2018. Katalog Verlag Schott Musik, ISBN (Deutsch): 978-3-79-57-9885-7.