Nachdem es Präsident Mursi im August dieses Jahres gelungen war, den Militärrat, Scaf, zu entmachten, ist ihm nun eine vergleichbare Operation gegenüber den obersten Gerichtsbehörden misslungen. Der ägyptische Präsident hatte Fehler der Armee in Sinai ausgenützt, um die damalige Armeeführung in Pension zu schicken und jüngere Kräfte unter den Offizieren in die frei gewordenen Spitzenpositionen nachrücken zu lassen.
Prominente Stützen Mubaraks
Im Falle des Obersten Staatsanwaltes hat er ebenfalls eine vermutete Fehlleistung der Staatsanwaltschaft ausgenützt, um zu versuchen, den bisherigen Staatsanwalt, der von Mubarak eingesetzt worden war, zum Botschafter am Vatikan zu ernennen und ihn dadurch aus seinem Amt zu entfernen. Zuvor hatte der Oberste Staatsanwalt, Abdel Maguid Mahmud, die Kritik vieler Ägypter auf Seiten der Revolutionäre und der Angehörigen der Opfer der Revolution hervorgerufen, weil der lang hingezogene Prozess gegen die beiden Hauptpolitiker aus der Mubarak Ära, Fathi Surur und Safwat al-Sharif, beide leitende Politiker der offiziellen Partei Mubaraks, der NDP, und 22 ihrer Mitangeklagten mit einem Freispruch der Angeklagten endete.
Ein umstrittener Freispruch
Der Freispruch erfolgte auf Grund von unklaren und wenig verlässlichen Aussagen der Belastungszeugen. Die Anklage hatte behauptet, die beiden Beschuldigten und ihre Helfer hätten den blutigen Ansturm auf die Revolutionäre am Tahrirplatz vom 28. Januar 2011 organisiert. Diese Attacke ist als "Kamelschlacht" berühmt geworden, weil die damaligen Anti-Revolutionäre unter anderem Kamele und Rennpferde gegen die Protestversammlung auf dem Befreiungsplatz einsetzten.
Die damaligen Zeitungsberichte und Fernsehbilder liessen keinen Zweifel daran, dass es sich um einen organisierten Angriff gehandelt hatte, der von Zivilen oder als Zivile verkleideten Regierungskräften und mit ihnen zusammenarbeitenden Schlägergruppen ausging, wobei auch Schüsse fielen und neben Hunderten von Verletzten auch Dutzende Todesopfern zu beklagen waren.
Aus Mangel an Beweisen
Die damaligen Berichte in Zeitungen und Fernsehen machten klar, dass die Schläger sich in einem wohlhabenden Quartier auf der anderen Nilseite versammelt hatten, und sie bezeichneten die beiden Hauptangeklagten als Organisatoren des Angriffs.
Der Prozess dauerte über anderthalb Jahre, und die Kritiker warfen dem Staatsanwalt vor, er habe ihn so geführt, dass die Angeklagten (unter Mubarak waren sie seine Mit-Würdenträger) wegen Mangels an Beweisen frei kamen.
Wer organisierte die "Kamelschlacht"?
Zeugen hatten ihre Aussagen vor dem Richter zurückgenommen, weil sie möglicherweise eingeschüchtert worden waren. Andere, die vielleicht klarere Aussagen gemacht hätten, wurden nicht vorgeladen - so hiess es jedenfalls. Der Freispruch sei auf die Prozessführung durch den Staatsanwalt zurückzuführen, glaubten die Kritiker, der eigentlich die Anklage hätte koordinieren sollen. Diese sei so ausgefallen, dass den Richtern am Ende nur der Freispruch auf Grund von zweifelhaften Schuldbeweisen übrig geblieben sei.
Dies war der spektakulärste Prozess gegen angeklagte staatliche Kräfte aus der Mubarak Zeit, denen die Verantwortung für mehr als 800 Todesfälle und Tausende von Verletzten unter den Demonstranten zugeschrieben wird. Aber wegen der fehlenden oder zumindest ungenügenden Beweise kamen sie wieder frei. Die Angehörigen der Opfer gehören zu den hartnäckigsten Stimmen "der Revolution". Bis in dieses Jahr hinein haben sie Monat für Monat demonstriert und Rechenschaft gefordert. Mursi hatte ihnen oftmals versprochen, sie würden ihr Recht erlangen.
Versuchtes Machtwort des Präsidenten
Als die Empörung über den Freispruch der mutmasslichen Organisatoren der "Kamelschlacht" Wellen schlug, griff Mursi ein und versuchte den Obersten Staatsanwalt aus seinem Amt zu entfernen. Dass er ihn zum Botschafter im Vatikan ernannte, zeigte allerdings, dass er wusste, er könne ihn nicht einfach entlassen. Er versuchte ihn zu "versetzen", weil er ihn nicht entlassen konnte.
Doch der Staatsanwalt erklärte, er werde seinen bisherigen Posten nicht aufgeben, bis seine reguläre Amtsperiode beendet sei. "Ich bleibe" rief er aus,"bis ich ermordet werde!" Hunderte von Juristen, Anwälte und Richter, stimmten ihm zu und unterstützten ihn verbal und sogar physisch, indem sie ihn auf seinen Amtssitz geleiteten. Formal waren sie offenbar im Recht. Der Präsident Ägyptens ernennt zwar den Obersten Staatsanwalt. Doch er kann ihn nicht entlassen (und wohl auch nicht wirklich "versetzen"), bevor er seine Amtsperiode zu Ende geführt hat.
Richterliche Unabhängigkeit, immer?
Die Richter und Juristen beriefen sich auf die Unabhängigkeit der Gerichte, die in der Tat konstitutionell gewährleistet ist. Sie bestanden umso mehr auf diesem Grundsatz, als er in der Zeit Mubaraks wieder und wieder durchbrochen worden war.
Einzelne waren mutig und kämpften auch unter Mubarak für die Unabhängigkeit der Richter und der Gerichte. Aber sie blieben eine Minderheit, die oftmals Sanktionen erlitt. Zu dieser Minderheit gehören der heutige Justizminister Morsis, Ahmed Mekki und sein Bruder, Mahmud Mekki, der als erster Vizepräsident Mursis wirkt. Beide haben die Gefängnisse Mubaraks kennengelernt.
Unter Mubarak "politisierte" Richter
Die grosse Mehrheit der heutigen Richter und Juristen hat schon unter Mubarak gedient und sich unter ihm "flexibel" gezeigt. Sie müssen daher heute fürchten, sie könnten ihre Posten und Wirkungsstätten verlieren, wenn ihnen unkorrektes Verhalten aus der früheren Zeit nachgewiesen würde. Sie haben daher alle ein grosses Interesse daran, ihre Unabhängigkeit von der staatlichen Macht zu erklären und sie als ein hochwichtiges Grundprinzip hochzuhalten. Sie haben sich deshalb massiv hinter den "versetzten" (weil nicht absetzbaren) Oberstaatsanwalt gestellt.
Die Lage der Richter und Advokaten ist insofern unterschiedlich von jener der Offiziere, als diese im Falle einer Absetzung ihrer bisherigen Spitzen Chancen zum Nachrücken wahrnehmen konnten. Während die Justizbeamten und Richter fast alle zu fürchten hatten, ihre Vergangenheit könnte auch sie einholen, wenn dies ihren wichtigsten Kollegen geschähe. Sie stellten sich daher ziemlich geschlossen hinter den Obersten Staatsanwalt. Was sie im Grunde fürchten, ist dass es doch noch zu einer Reform der ägyptischen Justiz kommen könnte.
Die erste Strassenschlacht ohne Polizei
Im Gefolge dieser Gemengelage kam es zu den ersten blutigen Demonstrationen auf dem Tahrir Platz von Kairo, in denen nicht die Sicherheitskräfte mit Demonstranten zusammenstiessen, sondern zwei Gruppen von ägyptischen Zivilisten, die unterschiedliche politische Ziele anstrebten. Auf der einen Seite standen Freunde des alten Regimes, offenbar gemischt mit säkularen Gegnern Mursis, die seiner "islamischen" Politik misstrauen und die Richter und Advokaten zu unterstützen. Sie stiessen mit Muslimbrüdern zusammen, die sich für Mursi einsetzen wollten.
Es kam zur Brandstiftung an Minibussen, mit denen die Brüder angefahren waren, und zu vielen Verletzten. Die Zeitungen sprachen von mehreren Dutzend. Die Leitung der Bruderschaft erklärte in der Folge, von ihrer Seite sei die Gewalt nicht beabsichtigt gewesen.
Ein Rückschlag für Mursi
Mursi sah sich gezwungen nachzugeben. Einer seiner Vizepräsidenten übernahm es, mit den Richtern und Juristen zu verhandeln. Sie sind in einer beruflichen Kammer organisiert, dem Club der Richter, dessen Vorsitzender, Ahmed Zind, als ein bitterer Gegner Mursis und der Bruderschaft gilt. Der Verbleib des Staatsanwaltes in seinem Amt wurde beschlossen. Mursi musste eine empfindliche Niederlage einstecken.
Sie kommt in einem für ihn schwierigen Augenblick, weil gerade die ersten hundert Tage seit seinem Amtsantritt verstrichen sind, und die Zeitungen Übersichten dessen veröffentlichen, was er in diesen hundert Tagen zu erreichen versprochen hatte und was er erreichte. Die Bilanz ist im besten Falle uneben, in den Augen seiner Kritiker sogar vernichtend.
Ringen um die Verfassung
Die Richter im Oberste Verwaltungsgericht haben am 16. Oktober darüber zu entscheiden, ob die gegenwärtige Verfassungsversammlung, von der es heisst, sie stehe kurz vor dem Abschluss eines Verfassungsentwurfes, aufgelöst werden soll oder nicht. Das Urteil war zunächst auf den 7. Oktober angekündigt, wurde aber vertagt.
Es liegen Klagen von Seiten der säkularen Politiker vor, nach denen auch diese zweite Versammlung unausgeglichen" zusammengesetzt sei und daher, wie schon die erste, aufgelöst werden müsste. Es gibt auch Rücktritte aus der Versammlung von Mitgliedern der säkularen Minderheitsgruppen, die sich aus Protest gegen die in ihren Augen allzu islamische Ausrichtung des entstehenden Verfassungsentwurfes abgesetzt haben.
Die Macht der Richter
Sollte das Verwaltungsgericht die Versammlung auflösen, müsste eine neue bestimmt werden, doch es ist unklar, von wem. Denn das Parlament wurde ebenfalls aufgelöst, und SCAF, der frühere Militärrat, der sich die Kompetenz zugesprochen hatte, im Falle einer Auflösung der zweiten Verfassungsversammlung die dritte selbst zu ernennen, existiert nicht mehr in seiner alten Form. Bliebe der Präsident. Doch gerade er und seine muslimische Ausrichtung sind der Stein des Anstosses für die Kläger, die ein Ungleichgewicht der Versammlung beanstanden.
Die Auflösung der Versammlung durch das Verwaltungsgericht würde jedenfalls eine Verlängerung der gegenwärtigen Übergangsphase mit sich bringen. Der Präsident würde dann ohne ein Parlament und unter unklaren und umstrittenen provisorischen Verfassungsbestimmungen gewissermassen autark regieren. Seine einzige Grenze würde ihm dann durch die richterliche Gewalt gezogen. Die wiederum entstammt in ihrer grossen Mehrheit dem früheren Regime Mubarak und pocht gerade aus diesem Grunde im Interesse ihrer eigenen Machterhaltung heute energischer als je auf ihre richterliche Unabhängigkeit.