Die Verkündigung des Wahlergebnisses erfolgte mit grosser Verspätung am Sonntagnachmittag. Die Stichwahl hatte vor einer Woche stattgefunden. Das offizielle Wahlergebnis war auf den vergangenen Donnerstag versprochen worden. Die Kommission erklärte, die Verspätung sei durch die vielen Eingaben beider Seiten verursacht worden, die alle hätten überprüft werden müssen.
Die Spannung für die Ägypter wurde dadurch auf die Spitze getrieben, dass der Präsident der Wahlkommission 90 Minuten lang eine Rede hielt, in der er die Arbeiten seiner Kommission schilderte und erst am Schluss dieser Rede das Resultat bekannt gab: Mursi wurde mit 51,7 Prozent der Stimmen gewählt.
Kultivierte Spannung
Eine "Strategie der Spannung" war schon Tage zuvor deutlich geworden. Nur wusste man nicht, warum die Offiziere von Scaf, dem Militärrat, diese Strategie verfolgten: War es, um schliesslich die Wahl ihres Kandidaten zu verkünden, jene des Gegners Mursis, des pensionierten Luftwaffengenerals Ahmed Schafik?
Oder war es vielmehr, um ihren eigenen legalistisch verkleideten Staatsstreich, der parallel zur Wahl durchgeführt wurde, in Vergessenheit zu bringen?
Ein Verschleierungstrick
Die zweite Vermutung sollte sich nun als zutreffend erweisen. Es ist den Militärherrschern ohne Zweifel gelungen, die Aufmerksamkeit der grossen Masse der Bevölkerung und auch der grossen Masse der Muslimbrüder von ihrem Staatsstreich abzulenken und auf die Präsidentenwahl zu lenken. Sie haben so die gewaltigen Massen, die seit Tagen auf dem Tahrir-Platz ausharrten und für beides demonstrierten: die Abdankung der Militärs und die Einsetzung Mursis zum Präsidenten, zu wildem Jubel veranlasst. Denn nach gewaltiger Spannung wurde Mursi endlich gewählt!
Unvermeidliches Machtringen
Dem Gewählten und der gesamten Führung der Muslimbrüder ist es natürlich klar, dass ein Ringen mit den Militärs um die Macht im Staate oder um die Art der Machtteilung zwischen Präsident und Militärführung noch bevorsteht. Man kann erwarten, dass dieses Machtringen relativ vorsichtig beginnen wird: mit einem gegenseitigen Abtasten und dem Versuch, zu einem friedlichen Einverständnis zu gelangen. Doch die Zielvorstellungen beider Seiten liegen weit auseinander. Die Bruderschaft und der Präsident möchten den Coup der Militärs vom 17. Juni soweit wie möglich rückgängig machen.
Selbsterklärte Machtfülle von Scaf
Durch diesen Coup wurde das Parlament aufgelöst, und die Militärführung ergriff die gesetzgebende Gewalt. Sie erkannte sich weitere Vollmachten zu: etwa die Bestimmung der Zusammensetzung und Beaufsichtigung der Arbeit der Verfassungskommission sowie eine weitgehend arbiträre Macht. Alle Ägypter können unter sehr schwammig umschriebenen Ordnungsbedingungen gefangen genommen und vor Militärgerichte gebracht werden. Ihr eigenes Militärbudget können sie selbst bestimmen und es geheim halten; ihre eigene Führungshierarchie können sie bestimmen, ohne Mitsprache von Zivilisten; den Verteidigungsminister können sie selbst ernennen. Sie haben die Macht, einen Verteidigungsrat zu bilden, den sie mit elf Offizieren gegen fünf Zivilisten beherrschen.
Kontakte zwischen der Bruderschaft und den Militärs hatten schon vor der Bekanntgabe des Wahlresultats stattgefunden. Doch die Sprecher der Muslimbrüder erklärten, sie hätten bisher zu keiner Übereinkunft geführt, weil die Militärs nicht nachgeben wollten. »Die Generäle empfinden, sie seien die Besitzer der Macht, und sie haben noch nicht das Niveau erreicht, um Kompromissen einzugehen«, erklärte Khairat al-Shatir, einer der wichtigsten Führer der Bruderschaft, der Agentur Reuter am vergangenen Freitag.
Die Militärs wollen herrschen, der Präsident soll regieren
Der Militärführung schwebt vor, eine grosse Feier zur Einsetzung des neuen Präsidenten am 30. Juni durchzuführen. Dies wird noch einmal Gelegenheit bieten, die grossen Massen der Bevölkerung von den wahren Machtverhältnissen abzulenken.
In den Verhandlungen mit den Muslimbrüdern wird das Ziel der Offiziere sein, die Bruderschaft dazu zu bringen, ihrer Vorstellung von der Machtteilung zuzustimmen. Wenn dies gelänge, könnten sie dem Präsidenten und der von ihm zu ernennenden Regierung alle Verantwortung für die beinahe unlösbaren Probleme zuschanzen, vor denen das Land steht. Dies sind Probleme, die durch die anderthalb Jahre des Chaos, die hinter Ägypten liegen, gewaltig erschwert worden sind.
Die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze
Die Fremdwährungsreserven sind seit der Revolution von 56 Milliarden Dollar auf 15 gesunken. Dies ist das absolute Minimum, das nur knapp sechs Monate der notwendigen Importe abdeckt. Die Exporte sind um 11 % zurückgegangen, der Tourismus erlitt grosse Einbussen, man spricht von mindestens 20 %. Die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, 41 Prozent der Menschen sind arbeitslos, darunter vor allen die jungen Leute.
Dies alles richtig zu stellen wird zum Ressort des Präsidenten gehören. Wenn er es nicht vermag, wird er selbst und die Bruderschaft an Popularität einbüssen.
Neuwahlen für ein neues Parlament werden nach den Plänen der Offiziere stattfinden, nachdem die neue Verfassung des Landes geschrieben sein wird - unter Aufsicht der Militärs natürlich. Das könnte in einem Jahr geschehen oder in anderthalb Jahren. Bis dann, so können die Offiziere sich ausrechnen, dürfte die Popularität der Brüder eingebrochen sein, und die Mehrheitsverhältnisse dürften sich weiter zu Gunsten der Parteigänger der Offiziere verschieben.
Regieren ohne Macht auszuüben?
Auch die Bruderschaft weiss um die gewaltigen Schwierigkeiten die ihrer Exekutive bevorstehen. Sie muss sich sagen, wenn es ihr nicht gelingt, die durch den Putsch geschaffenen Einschränkungen der Macht der Präsidentschaft rückgängig zu machen, wird sie gezwungen werden, die Verantwortung für die Regierung zu tragen, ohne über Entscheidungsfreiheit zu verfügen.
Sie wird daher alles tun, um die gegenwärtige Lage zu korrigieren. Wenn dies durch Verhandlungen nicht erreicht werden kann, ist damit zu rechnen, dass die Brüder die Massen mobilisieren werden. So soll erreicht werden, dass der Präsident und seine Regierung eine freiere Hand gegenüber den Militärs erhalten.
Regieren allein mit gebundenen Händen?
Der gewählte Mursi steht am Anfang eines schwierigen und gewagten politischen Ringens mit der Armee. Er wird versuchen, eine Regierung zu ernennen, der möglichst weite Kreise aus allen ägyptischen Gruppierungen angehören, um sich ein Maximum an Verbündeten zu schaffen.
Doch dazu muss er das grosse Misstrauen gegenüber den Muslimbrüdern und ihren Machenschaften abbauen, das sich in den vergangenen Monaten immer stärker herausgebildet hat, weil die Muslimbrüder im Zeichen der von ihnen errungenen Parlamentsmehrheit, die sie nun nicht mehr besitzen, allzu sehr darauf auszugehen schienen, alle Macht für sich alleine zu behalten. Ob der neue Präsident der geeignete Mann dazu ist, dieses Misstrauen zu reduzieren, kann man bezweifeln.