Die Militärkommandanten hatten am 17. Juni das Parlament als aufgelöst erklärt und sich selbst die gesetzgebende Macht zugesprochen. Sie hatten sich dabei auf einen Entscheid des Verfassungsgerichtes berufen, nach dem das Wahlgesetz, unter dem die Parlamentarier gewählt worden waren, "unkonstitutionell" sei.
Dass Mursi früher oder später mit den Offizieren zusammenstossen werde, war allgemein erwartet worden, doch dass er schon so früh, unmittelbar nach seiner offiziellen Einsetzung als Präsident, den Zusammenstoss provozieren werde, indem er die Wiedereinsetzung des Parlaments dekretierte, hatte niemand erwartet.
Präsident ohne Macht?
Warum er das tat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Doch man kann seinen Entschluss nachvollziehen, wenn man sich die Lage des neu gewählten Präsidenten vor Augen führt. Er sah sich in seiner Handlungsfreiheit beschränkt, ja wahrscheinlich sehr stark durch die Militärführung eingeengt. Sie wollte auch bei der Bildung der Regierung mitsprechen, die der Präsident noch ernennen muss. Mit Sicherheit beanspruchte sie, den Verteidigungsminister ernennen zu können. Vorgesehen ist offenbar Tantawi, der Oberkommandant der Armee und Vorsitzende der Militärjunta. Es gab auch Gerüchte, laut denen die Militärs viel mehr wollten. Danach beanspruchten sie, die wichtigsten Ministerien mit eigenen Leuten zu besetzen: das Aussenministerium, das Innenministerium, das Verteidigungsministerium und vielleicht sogar das Finanzministerium.
Schwierige Suche nach Mitarbeitern
Die ersten Schritte, die Mursi zur Regierungsbildung unternahm, waren von wilden Gerüchten begleitet, die als Informationen von Eingeweihten gehandelt wurden. Die starken Widersprüchliche dieser Hintergrundberichte liessen vermuten, dass der Präsident bei den von ihm angefragten Kandidaten auf Gegenfragen stiess, die unter den bestehenden Umständen sehr berechtigt waren. Wohl in dem Sinne: "Wenn ich bei der Regierung mitmache, sollte ich Klarheit darüber erhalten, wie viel Macht diese Regierung gegenüber den Militärs wirklich besitzen wird."
Die Militärs ihrerseits, die ebenfalls mit Mursi verhandelten, waren offenbar wenig bereit, ihre Machtsphäre klar gegen jene des Präsidenten abzugrenzen. Es gab Aussagen von Militärsprechern, die betonten, die Souveränität liege auf jeden Fall bei den Militärs. Davon wolle die Junta nicht abweichen.
Das Renaissance-Programm gefährdet
Für Mursi kam noch dazu, dass er sich in der Wahlkampagne auf ein wirtschaftliches, soziales und politisches Reformprogramm festgelegt hatte. Dieses sogenannte „Renaissance-Programm" war von der Muslimbruderschaft ausgearbeitet worden. Für sie stellt das Programm die "Fortsetzung der Revolution" dar. Es verlangt den Neuaufbau des gesamten Nillandes. Dies ist ein Programm, das grundlegende administrative und soziale Reformen voraussetzt, wenn es eine Chance zur Verwirklichung haben soll. Die ägyptische Gesellschaft steht hinter diesem Programm und hat gewaltige Erwartungen.
Doch Mursi dürfte klar geworden sein, was alle Beobachter längst wussten und auch offen dargelegt hatten, nämlich dass die Offiziere ein solches Programm nie zulassen würden, weil es auch ihre gewaltigen Interessen und Privilegien notwendigerweise beschneiden würde.
Geschmücktes Opfertier
Der neue Präsident musste erkennen, dass er zum Scheitern vorbestimmt war, höchstwahrscheinlich als ein von vornherein mit präsidialer Schärpe geschmücktes Opfertier, das auf dem Altar der Diskreditierung der Bruderschaft geschlachtet werden sollte. In dieser Hinsicht war nicht nur er selbst als Person und als Präsident in Gefahr, sondern mit ihm seine Partei, die Bruderschaft, die ihn zur Macht getragen hatte. Wenn er versagt, wäre auch die ganze Bruderschaft diskreditiert. Die Vermutung lag nahe, dass gerade dies das strategische Ziel des Militärrates war.
Der vorgesehene Nachfolger Mursis
Für die nächsten Wahlen in einem oder anderthalb Jahren wäre dann der Mann der Militärs, Ahmed Schafik oder ein anderer Ex-General, zum endgültigen Präsidenten Ägyptens für eine volle Amtsperiode gewählt worden. Ahmed Schafik war sofort nach seiner knappen Wahlniederlage ostentativ auf die Pilgerfahrt nach Mekka abgereist. Wenn dieser Plan aufging, wäre er, nach Annahme der noch zu schreibenden Verfassung, wohl als ein von allen Sünden gereinigter Pilger für die nächsten Wahlen nach Kairo zurückgekehrt.
Ausbruch aus der Zwickmühle
Kurz: Wie immer die Details gewesen wären, Mursi sah sich eingekeilt zwischen den Offizieren, ohne Bewegungsfreiheit, aber mit riesigen Anforderungen und einem ebenso grossen Erwartungsdruck vonseiten der ägyptischen Bevölkerung. So war er praktisch zum Scheitern verurteilt. Sein Dekret zur Wiedereinberufung des Parlamentes ist offensichtlich ein Versuch, aus dieser Zwickmühle auszubrechen. Wenn er ein Parlament hinter sich hat, ist er viel eher befähigt, der Militärführung die Stirne zu bieten. Ohne Parlament würden die Offiziere die die Vollmachten des Parlamentes für sich beanspruchen.
Die Junta tagt
Es bleibt abzuwarten, wie die Militärjunta reagieren wird. Sie hat sofort eine Sondersitzung anberaumt. Doch diese gab keine Entschliessungen bekannt und liess verlauten, eine zweite Sitzung werde am Montag folgen. Wahrscheinlich werden die Offiziere versuchen, die Richter des Verfassungsgerichts zu bewegen, für ihre Sache Stellung zu nehmen. Die Advokaten der Bruderschaft haben nicht das Verfassungsgericht, sondern das Verwaltungsgericht angerufen, um über die Frage der Gültigkeit der Auflösung des Parlaments zu entscheiden. Die Bruderschaft und Mursi selbst haben diesen Schritt der Militärs nie als legal anerkannt.
Wer ist legitim, der Militärrat oder Mursi?
Ob Mursi als Präsident die Anordnungen der Militärjunta rückgängig machen kann oder nicht, ist eine verzwickte Frage, die letztlich dadurch entschieden wird, ob die Militärs die Souveränität, die sie "interimistisch" bei der Absetzung Mubaraks übernahmen, heute noch, nach der Wahl eines neuen Präsidenten, besitzen oder nicht. Sie selbst haben die "Machtübernahme" des Präsidenten in einer ausführlichen Zeremonie gefeiert. Dennoch sind sie der Ansicht, dass sie weiterhin die gesetzgebende Gewalt und einige weitere Vollmachten, die sie sich zusprachen, legitim ausüben.
Falls die Gerichte sich weiterhin hinter die Militärjunta stellen, bleibt Mursi nur die Strasse und die "revolutionäre Legitimität", die sie bringen kann. Durch seine klare Herausforderung der Junta sucht er auch, sich selbst an die Spitze der Revolution zu stellen. Diese Position hatten ihm die säkular ausgerichteten Politiker und die Revolutionsgruppen bisher nicht unbedingt zugestanden. Sie waren in vielen Fällen der Ansicht, die Brüder stünden als dritte Kraft zwischen der Revolution und der Militärjunta, ja sie versuchten sich mit auf den Militärs auf Kosten der "Revolution" zu verständigen, um gemeinsam mit der Junta die Macht auszuüben.
Ein abgekartetes Spiel?
Es gibt zur Zeit sogar Politiker und Analysten in Ägypten, die weiter der Ansicht sind, dass Mursis jetzige Herausforderung ein abgekartetes Manöver sei. Ziel sei es, die geheime Zusammenarbeit zwischen dem Präsidenten und den Militärs zu verdecken. Vielleicht, so heisst es, hätten sie bereits einen geheimen Kompromiss geschlossen, den sie durch Mursis jetziges Manöver vertuschen wollten.
Ob diese gewundene Theorie auch nur ein Körnchen Wahrheit hat, dürfte die Reaktion des Militärrates auf die Herausforderung Mursis und dessen Antwort schon bald zeigen.