Die offizielle religiöse Lehrmeinung gerät in der islamischen Republik zunehmend in Legitimationsprobleme. Mystik und Massenproteste mögen unvereinbar sein, doch die Islamische Republik macht auch das Unmögliche möglich. Vor dem Teheraner Revolutionsgericht demonstrierten am vergangenen Mittwoch Hunderte, manche Quellen sagen Tausende Anhänger von "Erfane Halghe" („Interuniversaler Mystik“), um gegen das Unrecht zu protestieren, das sich ihrer Meinung nach gerade hinter verschlossenen Türen und ohne Verteidiger abspielt. Mit Plakaten und Parolen machten sie auf das drohende Todesurteil gegen ihren Grossmeister Mohammad Ali Taheri aufmerksam.
Der Protest wurde gewaltsam beendet und der Prozess gegen Taheri verschoben. Doch das Schicksal des 58-Jährigen offenbart wieder einmal die Macht der Sicherheitsapparate und die Funktionsweise der Justiz im Iran. Vor fast vier Jahren ist der Gründer der spirituellen Bewegung von den Revolutionsgarden verhaftet worden. Neun Monate lang wurde er im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran ohne Kontakt zur Aussenwelt festgehalten und schliesslich wegen „Beleidigung islamischer Heiligkeiten“ zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Auf Freilassung darf er dann aber trotzdem nicht hoffen. Denn inzwischen haben drei iranische Grossayatollah in ihren Fatwas bestätigt, dass Taheri ein Abtrünniger sei. Ein erneuter Prozess wegen Apostasie ist deshalb unvermeidlich. Nach Informationen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) befindet sich Taheri seit seiner Festnahme in Einzelhaft. Mehrfach habe er vergeblich die Verlegung in eine Gemeinschaftszelle gefordert, sei mindestens sieben Mal in den Hungerstreik getreten und habe vier Mal versucht, sich das Leben zu nehmen, heisst es im jüngsten AI-Bericht. Dabei genoss die „Interuniversale Mystik“ bei ihrer Gründung vor dreizehn Jahren durchaus das Wohlwollen der iranischen Machthaber. Denn ihre religiöse Sinnsuche, die sich zunächst in Grossstädten verbreitete, erschien als eine Methode, der grassierenden Gottlosigkeit der städtischen Mittelschicht Einhalt zu gebieten, und ihre Kurse zu Gruppentherapie schienen eine Alternative zu den leeren Moscheen zu sein.
Die geduldete Mystik wurde zunehmend attraktiv, gewann auch in den Kleinstädten Anhänger, und auf Taheris Therapiemethoden wurden sogar einige Hochschulen im Ausland aufmerksam. Doch je mehr die Zahl der „Neumystiker“ in die Höhe schnellte, umso grösser wurde das Misstrauen der Mächtigen - bis schliesslich die Zeit der Duldung zu Ende ging. Revolutionsführer Ayatollah Khamenei nahm sich persönlich des Themas an und warnte in einer Grundsatzrede vor „falscher Mystik“, die von ausländischen Feinden gesponsert werde. Von da an war die Jagd eröffnet.
Die Kursleiter der „Interuniversalen Mystik“ wurden verwarnt und verhaftet, Medien berichteten ausführlich über die Gefährdung durch die „Sekte“, und am Ende meldete sich das „Seminar für geistige Gesundheit“ der theologischen Hochschule Qom zu Wort. Die Zahl der „Interuniversalisten“ sei landesweit auf mindestens 300‘000 gestiegen, die „falsche Mystik“ habe sich zu einer gefährlichen Strömung entwickelt, die die Grundsätze des Islam erschüttere, ein energischer Kampf gegen die Irregeleiteten sei deshalb notwendig, so die Experten aus dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit. Taheri selbst versteht sich als gläubiger Schiit. In seinen Büchern, in denen es um Psychologie, Sinnsuche und Gruppentherapie geht, sucht er stets eine Verbindung zwischen Dies- und Jenseits. In einem aus dem Gefängnis geschmuggelten Brief fragte er einmal Ahmad Shaheed, den UN-Beauftragten für Menschenrechte im Iran, wer eigentlich die Verantwortung dafür trage, dass er – Taheri - als Moslem in einem islamischen Staat gefoltert und zu falschen Geständnissen vor der Kamera gezwungen werde? Die Frage ist zweifellos eine rhetorische. Taheri ist nach eigenem Bekunden zwar Schiit, aber kein Geistlicher. Gehörte er der Zunft der Kleriker an, hätte man wenig über ihn erfahren, denn die Verfolgung oppositioneller Geistlicher im Iran findet im Verborgenen statt.
„Sondergerichte“ gegen Mullahs
Wollte man die Geschichte jener Dissidenten schreiben, die sich in der Islamischen Republik auf die schiitische Lehre berufen, liesse sich wahrscheinlich eine beachtliche Bibliothek füllen. Der prominenteste von ihnen war Ayatollah Hossein Ali Montazeri. „Mein Augenlicht“ nannte ihn einmal der Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini selbst und machte ihn zu seinem Nachfolger. Montazeri war der eigentliche Erfinder der „Herrschaft der Gelehrten“. In Ungnade gefallen, stand er 22 Jahre lang bis zu seinem Tod unter Hausarrest. Seine Beerdigung 2009 wurde zu einer blutigen Massendemonstration.
Welche Sprengkraft die Kombination von Schiitentum, Geistlichkeit und politischer Opposition in sich birgt, wusste niemand besser als Khomeini selbst. Schliesslich war er die gelungene Verkörperung dieser Mischung. Einer seiner ersten Befehle nach der Machtübernahme war deshalb die Gründung eines „Sondergerichts für Geistlichkeit“. Denn ein Mullah ist in der Islamischen Republik ein in jeder Hinsicht privilegiertes Wesen. Als offizieller Mittler zu Gott ist es undenkbar, dass er je vor einem „normalen“ Richter und einem weltlichen Gericht steht. Nur Kleriker richten über Kleriker.
Diese sonderbare Justiz, die von niemandem kontrolliert werden darf, kennt keine Verteidiger. Die Sondergerichte haben eine eigene Polizei und eine eigene Prozessordnung, verfügen über eigene Gefängnisse und urteilen nach eigenem Strafkatalog. Zu diesem gehören die Verbote, Seminare abzuhalten oder die Klerikerrobe in der Öffentlichkeit zu tragen ebenso dazu wie die Verbannung, Haftstrafen oder Todesurteile.
Die Straftaten, mit denen sich die Sondergerichte befassen, sind keine übliche Kriminalität. Es geht ausschliesslich um Irrlehre, Abweichung und Propaganda. Mit diesen und ähnlichen Vergehen beschäftigen sich die Zweigstellen der Sondergerichte in zehn Provinzen des Landes. Die oberste Instanz befindet sich in der heiligen Stadt Qom, untergebracht in einem imposanten Gebäude, das mit modernster Technik ausgestattet ist. Alle bekannten schiitischen Reformer wie Modjtahed Shabetri, Mohssen Kadiver oder Yussef Eshkewari wurden hier zur „Entkleidung“, zu langjähriger Haft und schliesslich zur Verbannung verurteilt.
Alles bleibt im Verborgenen
Wie viele Geistliche im islamischen „Gottesstaat“ zur Zeit inhaftiert sind, weiss niemand genau, denn offizielle Zahlen gibt es nicht. Am Ausmass der Bürokratie der Sondergerichte lässt sich aber erahnen, dass die Kleriker offenbar viel zu tun haben. Allein in den vergangenen drei Wochen meldeten soziale Netzwerke, dass drei Grossayatollahs zum Tode verurteilt worden seien. Der Generalstaatsanwalt der Sondergerichte Mohammad Djafar Montazeri sagte kürzlich der Agentur Fars, über die Arbeit dieser Gerichte gebe es nie offizielle Informationen, denn ihre Fälle dürften nicht in der Öffentlichkeit behandelt werden.
Kein Wunder, dass eine solche Atmosphäre viel Raum für Spekulationen, Gerüchte und Halbwahrheiten bietet. Deshalb ist mal von Hunderten, mal von Tausenden Mullahs die Rede, die momentan in den Gefängnissen des Gottesstaates ihr Dasein fristeten. Die Wahrheit weiss nur ein sehr kleiner Kreis innerhalb der Geistlichkeit.
Die Unnachgiebigkeit der Sondergerichte sei verständlich und nachvollziehbar, sagt Mehdi Khaladji vom Washington Institute for Near East Policy. Denn die eigentliche Gefahr für die Herrschenden komme von innen: Die Grossayatollahs könnten ihnen viel bedrohlicher werden als manche Atheisten oder Säkularen. Khaladji muss es wissen: Er war einst selbst Mullah, bevor er nach Paris und später nach Washington emigrierte.