Seit Wochen publizieren „Bund“ und „BZ“ Sonderseiten zum Thema, überquellen die Leserbriefseiten der Berner Presse. Und auch wenn sich Befürworter und Gegner bereits dutzendmal die bekannten Argumente entgegenhalten, füllen Podien und Streitgespräche die Säle. Noch Anfang Woche – die meisten hatten wohl schon brieflich abgestimmt – kamen gegen 200 BesucherInnen an den Mäntig-Apéro, die traditionelle Stadt-Talkshow am ersten Montag des Monats.
Juristisch belanglos – psychologisch hoch brisant
Dabei ist der hitzig debattierte Urnengang juristisch belanglos: Es handelt sich um eine Konsultativ-Abstimmung zu einem atomfreundlichen Vorstoss des Grossen Rats, gleichzeitig bekämpft durch die „eigene“ Exekutive, dem Regierungsrat, der sich gegen Mühleberg II ausspricht. Für die Eidgenossenschaft ist der Entscheid eh nicht bindend. Also, was solls?
Das Gewicht der Abstimmung liegt in der psychologischen Wirkung. Der Mühleberg-II-Entscheid dürfte die kommenden Diskussionen und Weichenstellungen auf nationaler Ebene prägen – viele sehen in der Berner Abstimmung einen Testlauf für die nationale Energiepolitik, vielleicht gar einen Vorentscheid, ob zwei Ersatz-KKWs (in Beznau, Gösgen oder eben Mühleberg) überhaupt noch möglich sind.
Fakten klar – Emotionen dominieren
Die Fakten sind relativ klar: Mühleberg muss, wie andere ältere KKWs, bis ums Jahr 2025 vom Netz . Die Uranlieferverträge mit Frankreich laufen aus, und eine Verlängerung ist unwahrscheinlich. Der Stromkonsum steigt Jahr für Jahr und wird zu über 40% aus Kernenergie gedeckt, während die erneuerbaren, alternativen Energien heute bloss 2% der Stromproduktion ausmachen. Ob Fotovoltaik, Windgeneratoren oder Ausbau der Wasserkraft: Gegen praktisch alle Projekte gibt es Widerstand. Auch gegen neue, hochmastige Supra-Leitungen, die es längs und quer durch Europa bräuchte, um alternative Energien ergänzend aus dem Ausland zu beziehen. Nicht zu reden von den ungelösten Endlagern für hoch-radioaktive Abfälle, die zwar technisch machbar, politisch aber kaum durchsetzbar sind…
Unklares Pro und Contra
Hauptargument der Gegner ist, dass die neuen KKWs frühestens 2030 in Betrieb sein werden, zu einem Zeitpunkt also, da erneuerbare Energieproduktion die drohende Stromlücke längst füllen werde. Dazu müssten die Milliarden zur Erneuerung der Atomanlagen jetzt in die Entwicklung von Alternativenergien gesteckt werden. Hüben und drüben ist man sich zwar einig, dass Kernkraftwerke Auslaufmodelle sind – der Streit dreht sich mehr um den Zeitpunkt und die Investition der Milliardeninvestitionen. Und in dieser Diskussion dominieren die Emotionen, weil niemand genau voraussagen kann, wie sich der Stromkonsum entwickeln wird und wie man ihn künftig decken müsste.
Unglückliche Kommunikation
Kommt dazu, dass die Kommunikation der Betreiberin BKW selber, die zu 52,5 Prozent dem Kanton gehört, in den letzten Wochen mehr zur Verwirrung als zur Klärung beigetragen hat. So haben die BKW-Verantwortlichen zu Recht darauf hingewiesen, dass auch der alternativen Energiegewinnung harter Oppositionswind entgegenschlägt – was von den Gegnern weidlich zur Fehlinterpretation ausgeschlachtet wurde, der Stromkonzern wolle sich aus diesem Sektor weitgehend zurückziehen. So fehlt in den offiziellen Abstimmungsunterlagen der Hinweis, dass neben Mühleberg II auch ein atomares Zwischenlager geplant ist, was der BKW den Vorwurf der Vertuschung eingebracht hat. Da das neue Werk wesentlich mehr Strom produziert als das bisherige KKW kommt der Vorwurf, „Ersatz“ sei Etikettenschwindel – es gehe knallhart um Ausbau….
Überforderte Stimmbürger?
Da alle Fakten unsicher, alle Expertenmeinungen kontradiktorisch und alle Gegensätze unauflösbar scheinen, wird die Mühleberg-II-Abstimmung mehr und mehr zu einer Glaubensfrage und primär zu einem rein emotionalen Entscheid. Je komplexer die Technologie, desto grösser die Überforderung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger.
Man kann sich wohl mit Fug und Recht die Frage stellen, ob eine solch hochwissenschaftlich-technologische Materie überhaupt noch sachlich vom „breiten Volk“ entschieden werden kann, jenem vielzitierten Souverän, dessen Souveränität diesmal arg strapaziert wird. Je grösser die Überforderung, desto mehr wird Mühleberg II zum reinen Bauchentscheid.
Kopf gegen Bauch: Das Ergebnis dürfte – so oder so – knapp ausfallen.