Der Mensch ist ein Stammestier, auch moralisch gesehen. Zusammenleben, Empathie, gutes und schlechtes Handeln lernt er zuerst im kleinsten Kreis seiner Familie, seiner Angehörigen, seiner Bekannten. Selbst wenn er im Laufe seines Lebens zur «erwachseneren» Sicht heranreifen mag, dass Moralität eigentlich eines Wir bedürfte, das alle Menschen umfasst, bleibt immer ein Rest an Stammesmentalität an ihm haften.
«Rückkehr der Stämme»
2006 sprach der amerikanische Publizist Ralph Peters von der «Rückkehr der Stämme» («Return of the Tribes»). Der Multikulturalismus bringt notwendig auch den Multi-Moralismus mit sich, die Zersplitterung der Vorstellungen guten Handelns und Zusammenlebens. Gehört der Tribalismus der Moral zu unserer Natur? Lässt er sich überwinden? Und, falls ja, wie?
Die Frage ist alt. Sie stand für die Philosophen der Aufklärung zuoberst auf der Prioritätenliste, zumal für den Weltbürger Kant, den das «moralische Gesetz in uns» noch mit ebenso grosser Ehrfurcht erfüllte wie der gestirnte Himmel über uns. Der Mensch kann sein moralisches Stammestum überwinden, weil er ein vernünftiges Wesen ist, nach Einsichten in universelle Prinzipien handeln kann. Das war die grandiose Hoffnung des 18. Jahrhunderts. Heute dominiert aber in den meisten Konfliktzonen des Planeten eine Stammesvernunft und nicht eine Weltvernunft unser globales und lokales Handeln.
Ist Moral instinktiv verankert?
Der amerikanische Psychologe Joshua Greene hat diese missliche Lage zum Anlass genommen, ein Buch über die Möglichkeit eines moralischen Universalismus «von unten», also von der empirischen evolutionsbiologischen Basis her, zu schreiben («Moral Tribes: Emotion, Reason and the Gap Between Us and Them»). Dass wir von der Evolution mit bestimmten Dispositionen zum Kooperieren und Überleben ausgerüstet, kann ja kaum geleugnet werden.
Gibt es daher so etwas wie moralische Instinkte, die allen gemeinsam sind? Indizien sprechen durchaus dafür. Betrachten wir ein Beispiel: Ein Kind ist ins Wasser gefallen und am Ertrinken. Ein gläubiger Christ und ein Atheist springen sofort ins Wasser und retten es. Eine gute Tat, ohne Zweifel. Teilen die beiden Retter gemeinsame Werte, gemeinsame Begründungen dessen, was «gut» ist? Nicht unbedingt. Eher könnte man sagen, sie hätten ein «Bauchgefühl» für das Gute und Schlechte, obwohl sie verschiedenen «Glaubensstämmen» angehören.
Aber dieses Gefühl ist nicht immer so schön eindeutig, und es kann uns schnell in eine moralische Zwickmühle führen. Variieren wir die Situation: Drei Kinder sind im Wasser und strampeln um ihr Leben. Ich kann nur eines retten. Ich erkenne das eine Kind als meines. Welches rette ich? Wie herzlos wäre es, nicht mein eigenes Kind zu retten. Wie herzlos ist es, nur mein eigenes Kind zu retten.
Das Trolley-Problem
Ist Moral rational oder viszeral? Sie ist beides, sagt Greene. Sie ist ein «dualer Prozess» von schnellen – viszeralen – und langsamen – rationalen – Reaktionen, von Automatismen und Deliberationen. Moralische Probleme resultieren immer aus einem Gemisch der beiden Reaktionstypen.
Philosophen diskutieren diesen Doppelcharakter schon lange am Beispiel eines bekannten Gedankenexperiments, das die amerikanische Philosophin Judith Jarvis Thomson einmal als «entzückend grauslig» bezeichnete: am Trolley-Dilemma (deutsch auch unter «Strassenbahn-Problem» bekannt). Eine ausser Kontrolle geratene Strassenbahn droht fünf Personen auf dem Gleis zu überrollen (sie können sich aus irgendeinem Grund nicht vom Gleis lösen). Durch Umstellen einer Weiche kann ich das Gefährt auf ein anderes Gleis umleiten. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Eine andere Variante (es gibt weitere) dieses Problems lautet: Ich stosse einen unbeteiligten dicken Mann von einer Fussgängerbrücke vor die Strassenbahn, und durch dieses massive Hindernis kann sie gestoppt werden.
Moral im Cortex
Das Grunddilemma ist offensichtlich: Nehme ich den Tod einer Person in Kauf, um fünf andere zu retten? Eine häufige Antwort: Lieber ein Toter als fünf Tote. Eine typisch utilitaristische Rechtfertigung. Moral als Minimax-Programm: Leiden minimieren, Glück maximieren. Interessant dabei ist, dass viele Leute die Weichenstell-Variante moralisch vertretbarer finden als die Dicker-Mann-Variante, obwohl beide rein rechnerisch auf die gleiche Bilanz hinauslaufen. Kulturübergreifende Vergleiche zeigen das Verhaltensmuster bei allen Menschen. Gibt es also womöglich tief «verdrahtete» Abwehrreaktionen im zweiten Fall, die sich im ersten nicht so klar zeigen? Immerhin lege ich ja beim dicken Mann direkt Hand an einen Mitmenschen.
Greene transformierte das philosophische Experiment in ein neuropsychologisches. Er scannte die Gehirne seiner Probanden, während sie sich mit dem Trolley-Dilemma beschäftigten. Dabei fiel auf, dass in den beiden Varianten unterschiedliche Hirnareale beteiligt sind: Im ersten Fall ist es jenes, das stärker bei rationalen Abwägungen (dorsolateraler präfrontaler Cortex), im zweiten Fall dagegen jenes, das stärker bei Emotionen (ventromedialer präfrontaler Cortex) aktiviert wird.
Das Psycho-Neuro-Bio-Genre
Das weckt natürlich Erinnerungen an die Dichotomie von linker und rechter Hirnhälfte, die vor einiger Zeit als Basis für eine Grobaufteilung der Menschheit herhalten musste – jetzt also: dorsolateral versus ventromedial. Aufhorchen lässt, dass Greene uns mit seinen Experimenten überzeugen möchte, Fragen der Moral nicht so sehr – wie traditionsgemäss – im philosophischen, sondern im Psycho-Neuro-Bio-Genre abzuhandeln. Seiner Meinung nach sind die meisten Moralphilosophien fehlgeleitete Versuche, unsere moralischen Intuitionen und Bauchentscheide zu rechtfertigen als Anwendungsfälle religiöser Gebote oder allgemeiner ethischer Prinzipien, wie wir leben und handeln sollen.
Tatsächlich aber, so Greene, manifestieren solche Intuitionen den elementaren Doppelcharakter der Gehirnprozesse, die an moralischen Entscheidungen beteiligt sind. Nun gibt es gegen den Einsatz von Magnetresonanztomografen in moralischen Problemen nichts einzuwenden. Stutzig macht, dass ein Psychologe mit Experimenten beginnt und bei einer allgemeinen philosophischen Position, einer «Meta-Moral», endet. Sie begünstigt einen «tiefen Pragmatismus», wie ihn Greene nennt. Er soll uns aus den Fesseln des moralischen Tribalismus befreien, weil er aus dem «rationalen» Teil unseres Gehirns stammt, und uns in heiklen Fällen nicht zu viszeralen, sondern zu deliberativen Reaktionen animiert und in uns auch eine unparteiischere Sicht fördert.
Utilitarismus «befreit» uns aus dem Tribalismus
Das klingt hehr, denn welcher einigermassen reflektierende Zeitgenosse begrüsste nicht das Ziel einer «universellen moralischen Währung»: Benutze deinen dorsolateralen Hirnlappen, Trottel! Aber «rational» heisst für Greene «utilitaristisch», und abgesehen von der Frage, ob alle moralischen Probleme auf Trolley-Dilemmata oder auf Glück-und-Leiden-Kalkül zurückführbar sind, wird an Greene einmal mehr ein allgemeineres Phänomen sichtbar, das schon fast das Ausmass eines Kulturkampfes annimmt.
Seine Forschungen liegen im Trend einer «experimentellen Philosophie» – im Englischen abgekürzt als «X-Phi». Und sie fügen sich ein in eine «naturalistische» Bewegung von Philosophen, Schriftstellern und Wissenschaftern, die sich aufs Panier geschrieben haben, Experimente als oberste Schiedsrichter in religiösen, sozialen oder ethischen Problemen walten zu lassen. Meist unterschlagen sie, dass aus Hirn-Scans keine moralischen Gebote herleitbar sind.
Die «Tragik» der Common-Sense-Moral?
Nun mag es durchaus sein, dass sich unsere Disposition zum guten Handeln in einer Welt entwickelte, in der wir uns nur um den eigenen Stamm kümmern mussten. Die Welt: Das war ein provinzielles «Wir». Der daraus resultierende moralische Tribalismus ist in der Tat ein beunruhigendes Problem. Greene nennt es die «Tragik der Common-Sense-Moral» – womöglich die «zentrale Tragödie modernen Lebens». Es ist unser tribales Erbe.
Spätestens hier stellt sich freilich die Frage, ob denn diese so schlecht beleumdete Common-Sense-Moral tatsächlich nur Wurzel des Übels sei, die durch eine Meta-Moral aus den neuropsychologischen Labors domestiziert werden muss. Die Kluft zwischen «uns» und «ihnen» ist ja nicht primär naturgegeben, sie ist – gerade heute – vorwiegend menschengemacht, nämlich politisch. Sie liesse sich unter anderem auch überbrücken, indem wir auf einmal innewerden, dass «wir» und «sie» in mancherlei Hinsicht so verschieden gar nicht sind.
Dazu benötigen wir weder Neurologie noch religiöse Gebote noch utilitaristische Abwägungen, sondern kritischen gesunden Menschenverstand und kulturübergreifende Phantasie. Molières Monsieur Jourdain macht die umwerfende Entdeckung, dass er immer schon Prosa spricht. Der «gemischte» Alltag in den europäischen Metropolen erweist sich heute ja selbst als ein einziges Labor, und in ihm bemerken wir wie Monsieur Jourdain, dass wir immer schon das Esperanto einer impliziten Meta-Moral sprechen – unter Nachbarn, am Arbeitsplatz, auf dem Fussballfeld, im Schulzimmer.
Könnte man hier nicht auch den «tiefen Pragmatismus» eines interkulturellen Common-Sense ausmachen – sei er nun utilitaristisch oder nicht. Der Keim eines Wir-Bewusstseins steckt in allen moralischen Stämmen der Welt: als Vermögen, das Brett vor dem Kopf zu demontieren. Es ist – hoffentlich – der Keim einer neuen Aufklärung.