«Sind wir bereit für die ‚moralische Pille’?» So betitelten der für seine provokanten Thesen bekannte Philosoph Peter Singer und die Ko-Autorin Agata Sagan einen Artikel in der New York Times (Januar 2012). «Wenn die fortschreitenden Neurowissenschaften tatsächlich biochemische Unterschiede zwischen den Gehirnen jener Menschen zeigen, die andern helfen, und jenen, die nicht helfen, könnte dies zu einer ‚moralischen Pille’ führen, einem Medikament, das uns hilfsbereiter werden lässt?»
Und dann lassen Singer und Sagan die Katze aus dem Sack: «Würden Menschen die Pille wählen? Könnten Kriminelle die Wahl haben zwischen Gefängnis und einem das Pharmakon abgebenden Implantat, das sie weniger anfällig für Gewalttaten macht? Könnten Regierungen damit beginnen, Leute zu screenen, damit jene erkannt werden, die am wahrscheinlichsten Verbrechen begehen?»
Biologische Verbesserung der Moral
Singer und Sagan sind nicht die einzigen, die solche Fragen stellen. Die Idee des Moral Enhancement erfreut sich im Zeitalter des Bio- und Neuro-Engineerings wachsender Aufmerksamkeit und Sympathie in einschlägigen Zirkeln. Die beiden Philosophen Julian Savulescu und Ingmar Persson vertreten in ihrem jüngst erschienenen Buch «Unfit for the Future» die These, dass der Mensch von Natur aus gar nicht das moralische Format habe für die Grösse der aktuellen und künftigen Probleme: Xenophopie, Terrorismus, Umweltprobleme, Indifferenz gegenüber Menschenrechtsverletzung, ökonomische Ungerechtigkeit.
Die Menschheit halte Kurs auf ein «Bermuda-Dreieck der Ausrottung». Die Eckpunkte dieser recht unerfreulichen Zukunftstriangulation sind die evolutionären Ursprünge unserer Moral, die rasant wachsende Potenz der Technologie und Wissenschaft und die Rahmenbedingungen einer liberalen und demokratischen Gesellschaft. Die These ist umso tückischer, als sie vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Weltlage gar nicht so unplausibel klingt.
Bedrohliche Defizite
Erstens befinden wir uns, ethisch gesehen, eigentlich immer noch in der Steinzeit. Unser Altruismus ist oft beschränkt auf die «Höhle» unserer eigenen Lebensform. Man hat in diesem Zusammenhang auch schon von moralischem «Autismus» oder «Infantilismus» gesprochen. Wir sehen uns primär verantwortlich für das, was wir in unserer Höhle und ihrer Umgebung aktiv verursachen, und nicht für das, was wir mit all den anderen Höhlen zusammen passiv geschehen lassen. Stichwort: Klimaänderung.
Zweitens hinkt der moralische Fortschritt dem wissenschaftlich-technischen hinterher. Ein globales Auslöschungsszenario – ausgelöst durch eine kleine Gruppe, um nicht zu sagen: eine einzelne Person – ist nicht nur denkbar, sondern real möglich. Der Fortschritt der Technologie steigert die Fatalität ihres Missbrauchs.
Und drittens erweist sich das politische Setting von Demokratien als ineffizient, wenn es darum geht, wirkungsvolle Massnahmen zur Lösung globaler Probleme durchzusetzen – auf nationaler, geschweige denn auf internationaler Ebene. Stichwort: Klimagipfel.
Engineering als Ausweg aus dem Trilemma?
Man mag den Autoren Schwarzmalerei in eigener Sache vorwerfen, es ist ihnen dennoch als Verdienst anzurechnen, dass sie uns sozusagen mit der Nase auf ein unliebsames Trilemma stossen: Um «fitter» für die Zukunft zu werden, haben wir die Möglichkeit, an drei Parametern zu schrauben: Erstens Wissenschaftlich-technischen Fortschritt drosseln; zweitens die liberal-demokratische Gesellschaft mit mehr autokratischen Elementen durchsetzen; drittens uns mit allen Mitteln moralisch verbessern. Punkt eins ist nicht wahrscheinlich, Punkt zwei ist (zumindest in «westlichen» Ländern) nicht wünschbar, also bleibt Punkt drei.
Indem Savulescu und Persson die brennenden globalen Probleme vom technologischen in den moralischen Fokus rücken, folgen sie einem Appell, den der renommierte Ökologe Garret Hardin schon vor über vierzig Jahren erhoben hatte: Grossprobleme wie z.B. das Bevölkerungswachstum lösen wir primär nicht durch Technologie, sondern durch eine «Erweiterung der Moral» – was nicht heisst, dass Technologien, z.B. Verhütungsmittel, nicht durchaus ihre Wirkungen haben können.
Neu am Moral Enhancement ist, dass seine Befürworter nun die Moral selbst durch ein besseres Engineering, durch das Design eines an die neuen Risiken adaptierten – eines ethisch «fitten» – Menschen aufrüsten wollen. Es geht also nicht nur darum, uns durch Impfstoffe oder andere Mittel resistent gegen Krankheiten zu machen, sondern auch gegen moralische Verfehlungen. Eine Antirassismus-Pille, ein Altruismus-Gen, ein Updating des Gehirns durch zusätzliche Verantwortungs-Chips?
Tendenz zu politischem Dirigismus
Wie aber überzeugt man Bürgerinnen und Bürger von Demokratien, «die Pille» einzunehmen? Setzte dies nicht eigentlich genau jene Reife und Einsicht voraus, die man durch Moral Enhancement erst erreichen will? Savulescu und Persson sehen das Problem durchaus: «Wenn ein sicheres Moral Enhancement je entwickelt wird, dann gäbe es starke Gründe dafür, dass es obligatorisch werden sollte, wie der Schulunterricht oder Fluorid im Wasser.» Warum? Weil diejenigen, welche diese «Behandlung» am nötigsten hätten, sich ihr wahrscheinlich nicht freiwillig unterziehen würden.
Und wenn der moralische Wille fehlt? Man hört vermehrt aus wissenschaftlichem Mund die Wendung «ethisch zwingend». Sie sollte uns hellhörig machen. Moralische Imperative haben die Tendenz zu politischem Dirigismus. Im Jahre 2007 schlug der australische Spezialist für Geburtshilfe Barry Walters vor, eine Öko-Gebühr auf Babys zu erheben, weil jedes neugeborene Kind eine ergiebige Quelle von Treibhausemissionen für durchschnittlich achtzig Jahre darstelle. Schon Hardins Diagnose mündete in die Forderung nach globaler Geburtenkontrolle, durchgesetzt von einer weltautoritären Instanz wie den USA. Der Historiker Joachim Radkau hat unumwunden von «Öko-Diktatur» gesprochen.
Macht für die Aufgeklärten und Informierten
Im Hintergrund lauert eine andere Frage: Wer verabreicht eigentlich die «moralische Pille»? Antwort: Diejenigen, die «es» wissen. Ganz in diesem Sinn äussern sich Savulsescu und Persson: «Wenn wir eine solche gewaltige Macht besitzen (...), sollte sie nur jenen anvertraut werden, die moralisch aufgeklärt und genügend informiert sind.»
Das ist nun tatsächlich ein tückischer Gedanke, der an die bekannten Dystopien von Huxley und Orwell erinnert und in die Antike zurückreicht. Platon ersann einen idealen Staat mit exakt jener Art von Aristokratie der Wissenden, wie sie offensichtlich nun in den «aufgeklärten» Moral-Experten von Savulescu und Persson wiederkehrt. Nur der dürfe herrschen, «der im Besitze der königlichen Wissenschaft ist.»
Platon meinte die Philosophie. Finden wir die «königlichen» Wissenschafter heute in der Genetik und Neurobiologie? Generell in jener Forscherkaste, welche die Flagge des «Transhumanismus» gehisst hat? Einer der grosssprecherischsten Visionäre, Ray Kurzweil, schwadronierte vor nicht allzulanger Zeit von einer «Techno-Elite und Prätorianergarde», von «High-Tech-Hohepriestern, die den großen Rest der überwiegend ‚dümmeren’ Menschen lenkt und kontrolliert.» Man mache sich bewusst, dass in solchem Techno-Totalitarismus nicht die Phantasie eines puerilen Gamers in virtuellen Welten spricht. Kurzweil amtet neuerdings als Forschungsdirektor von Google.
Grenzenlose Ambition der Bio-Wissenschaften
Der Natur auf die Sprünge helfen, um bessere Menschen aus uns zu machen – das impliziert in erster Linie, jene Forschung zu intensivieren, die uns Erkenntnisse über die biologische Basis moralischen Verhaltens liefert. Wenn wir also z.B. wissen, dass rassistische Aversionen mit dem Serotoninspiegel in der Amygdala zusammenhängen, dann öffnet sich damit «im Prinzip» der Horizont einer neurobiologischen Einflussnahme auf rassistisches Verhalten.
«Im Prinzip» meint hier, dass aufgrund der neuronalen Komplexität alles andere als klar ist, wie denn diese Einflussnahme konkret aussähe. Solche Details sind für das Moral Enhancement allerdings bloss Hürden, die eine avancierte Neurobiologie ohnehin bald übersprungen haben wird. Seine Ethik – der Titel «Unfit für the Future» sagt es deutlich genug – steht ganz im Zeichen eines postevolutionären Überlebenskampfes.
Geringschätzung von Kultur und Gesellschaft
Unmissverständlich zum Vorschein kommt die biologistische Sicht in Aussagen wie: «Unsere moralischen Dispositionen beruhen auf unserer Biologie. Sie sind nicht im selben Mass kulturelle Produkte wie die Sprache oder die Gesetze einer Gesellschaft.»
Eine solche Behauptung läuft auf eine methodische Unterschätzung gängiger kultureller Mittel der moralischen Erziehung hinaus: Nachahmung, Einfühlung, Phantasie, Gespräch, nicht zuletzt Strafe. Betrachten wir das akute Beispiel Rassismus. Savulescu und Persson ergehen sich in typisch biologistischem Duktus: «Menschen enkodieren die Rasse eines jeden Individuums, dem sie begegnen, und sie tun dies über einen Rechenprozess, der automatisch und zwingend erscheint. Rassen-Kodierung ist ein Nebenprodukt des kognitiven Mechanismus, der sich entwickelte, um Bündnisse zu schliessen.»
Das mag so sein. Aber Rassismus auf diese Weise in der biologischen Evolution zu verankern, lenkt ab von der Tatsache, dass wir es hier weniger mit einem biologischen als mit einem soziokulturellen Phänomen zu tun haben; dass Rassismus auf Vorurteil, ideologischer Verblendung, politischem Machtwillen beruht, und weniger auf der «Enkodierung» und dem Serotoninspiegel im Gehirn.
Die Situation wird umso komplizierter, als Serotonin erwiesenermassen zwar soziales Verhalten fördert, freilich mit Nebeneffekten bis schlimmstenfalls Suizidtendenz verbunden ist. Abgesehen davon, dass unter Forschern kein Konsens herrscht, zeigt sich gerade hier eine auf dem Vormarsch befindliche Bio-Politik der Präferenz für neurobiologische Lösungsansätze. Und dahinter die schleichende Ersetzung des anthropologischen Blicks durch einen anthropotechnologischen.
Keine Moral ohne Freiheit
Gewiss, die Frage «Biologie oder Kultur?» ist ein notorischer gordischer Knoten. Und insofern unsere moralische Disposition eine biologische Basis hat, kann Biotechnologie auf sie einwirken, unter Umständen natürliche Defizite beheben. Aber Moral ist nicht einfach ein Problem der Defizitbehebung – ebensowenig, wie Gesundheit allein ein Problem der Krankheitsbekämpfung ist.
Moral Enhancement zielt mit seiner impliziten Naturalisierung der Moral auf die Idee des Moralischen schlechthin, die Idee nämlich, dass Gutsein ja nur von seinem Gegenteil – dem Bösen – her Kontur erhält; von jenem Abgrund in uns, der sich nie ganz mit unserem (guten) Willen überdecken lässt.
Was fehlt uns eigentlich, wenn das Böse fehlt? Ist es nicht gerade unsere Anfälligkeit für das Böse, die uns moralisch handeln lässt? Beruht die moralische «Würde» nicht auf dem Wissen, dass kein Mensch – am wenigsten der Heilige – gegen das Abweichen von dem gefeit ist, was er als gut betrachtet. Den «besseren Weg sehen und den schlechteren wählen», heisst dies in den Worten des Schriftstellers William Golding. Das ist eine uralte Einsicht, die wohl in allem moralischen Denken der Menschheit ihren Niederschlag gefunden hat. Eine tägliche Moraldosis, die uns von dieser Anfälligkeit, dieser Schwäche «befreien» soll, entzieht uns zugleich den Boden moralischen Handelns, nämlich die Freiheit, Böses zu tun.