Nach der Wahl von Muhammed Mursi als Präsidenten gibt es in Ägypten zwei Mächte, die Armee und den Präsidenten. Die Armee hat sich selbst zur wichtigsten Macht erklärt, den Präsidenten hat sie weitgehend entmachtet. Doch die Armee ist daran interessiert, eine zivile Fassade aufrecht zu erhalten, welche die nackte bewaffnete Gewalt, die sie besitzt und ausübt, etwas verkleidet. Dies im Hinblick auf das Ausland und auf die eigene Bevölkerung. Denn das Ausland, vor allem das amerikanische, könnte seine Unterstützungsgelder für Ägypten reduzieren oder ganz abziehen. Diese US-Gelder betragen 1,3 Milliarden, wovon rund eine Milliarde an die Armee geht. Generell würde das Prestige Ägyptens leiden, wenn das Land als eine unverblümte Militärdiktatur wahrgenommen würde.
Immer noch Hoffnung auf Demokratie
Das Inland ist noch wichtiger; die Demonstrationen könnten neu ausbrechen und sich gegen das Militärkommando wenden. Die Militärs sind in der Lage, solche Demonstrationen niederzuschlagen - jedoch nur solange, als ihre Soldaten, Unteroffiziere und Leutnants ihnen gehorchen. Situationen, in denen die militärische Disziplin zerbrechen könnte, sind dem Hohen Oberkommando, zu Recht, unheimlich. Sie möchten daher neue Demonstrationswellen vermeiden. Diese sind ausserdem für die Wirtschaft Ägyptens schädlich, und die Militärs gehören zu den grossen Wirtschaftsmanagern Ägyptens.
Wenn die Bevölkerung unter dem Eindruck steht, es gäbe wenigsten ein bisschen Demokratie und vielleicht später noch etwas mehr, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie protestiert, kleiner. Aus diesen Gründen werden die Offiziere des "Supremen Kommandos der Bewaffneten Kräfte", abgekürzt Scaf, (man beachte das Wort "Suprem") versuchen, den Schein von Demokratie zu bewahren und es vorziehen, mit dem gewählten Präsidenten zu koexistieren als mit ihm zu streiten.
Geringe und unklare Vollmachten Mursis
Der Präsident seinerseits wird versuchen, etwas Macht für sich selbst zu bewahren. Er kann nach den Regeln, die die Offiziere aufgestellt haben, und die sie von den Gerichten einigermassen legalisieren liessen, die sie aber auch jeder Zeit ändern können, eine Regierung ernennen und die ägyptischen Ministerien verwalten. Ausgenommen sind all militärischen Belange, welche die Offiziere für sich alleine reserviert haben, auch das geheime Budget der Militärkräfte. Mitreden wollen die Offiziere auch bei der Aufstellung des staatlichen Budgets.
Der Präsident darf wohl auch mitreden bei der Ausarbeitung der künftigen Verfassung Ägyptens, doch die Offiziere haben sich selbst dabei die entscheidende Rolle vorbehalten. Die Offiziere sehen sich auch als die gesetzgebende Gewalt an, gewissermassen als Ersatz für das gewählte Parlament, das sie mit gerichtlicher Rückendeckung auflösen liessen. Unklar ist, wie so vieles andere, ob der Präsident befugt sein wird, die Gesetze der Militärs zurückzuweisen, indem er ihnen die Unterschrift verweigert. Ebenfalls ungeregelt ist, was geschieht, falls er Gesetze zurückweisen kann und dies auch tut.
Erste Phase, Verhandlungen
Die gegenwärtig geltenden vorübergehenden Verfassungsimprovisationen sind dermassen unbestimmt und offen, dass ohne Zweifel schon bald Situationen entstehen werden, in denen die Zuständigkeiten von Scaf und jene des Präsidenten genauer abgegrenzt und definiert werden müssen.
Der Präsident hat ein Interesse daran, über diese unvermeidlichen Interessengegensätze zu verhandeln. Er hat auch ein Interesse daran, in solchen Verhandlungen und bei den Kraftproben, die ihnen folgen könnten, einen möglichst grossen Teil der Ägypter als seine Parteigänger hinter sich zu scharen. Er hat daher sofort nach seiner Wahl betont und wiederholt unterstrichen, dass er nun der Präsident "aller Ägypter" sei. Er ist von seiner bisherigen Position als Vorsitzender der Partei der Muslimbrüder, "Freiheit und Gerechtigkeit", zurückgetreten, um zu betonen, dass er nun, nach seiner Wahl, nicht mehr als Muslimbruder gesehen werden will, sondern eben als Präsident "aller Ägypter", auch jener, die fürchten, die Muslimbrüder gingen heimlich doch darauf aus, einen islamischen Gottesstaat zu gründen.
Mitarbeiter aus säkularen Kreisen?
Die Frage ist nur, ob er diese Befürchtungen wirklich beschwichtigen kann. Er wird dies ohne Zweifel weiterhin versuchen. Die Regierung, die er noch zu bilden hat, wird ein wichtiges Indiz dafür sein, wie ernst er selbst seine Versprechen nimmt. Wird er auch Minister einstellen, die nicht zu den Muslimbrüdern gehören? Oder gar solche, die zu den Kritikern der Bruderschaft zählen? Wen wird er zu seinem Ministerpräsidenten ernennen? Wenn es ihm gelingt, Persönlichkeiten von Gewicht, nicht nur aus den Reihen der Muslimbrüder zu gewinnen, sondern auch aus der säkularen Hälfte der Bevölkerung, und wenn dann die Zusammenarbeit mit ihnen funktioniert, wird er den Offizieren von Scaf als ein gewichtigerer Gesprächs- und Verhandlungspartner gegenübertreten, als wenn er nur die eine Hälfte der Ägypter hinter sich hat, jene aus den islamisch ausgerichteten Kreisen.
Eine weitere Übergangsperiode
Das gegenwärtige Provisorium mit eingebauter Übermacht der Offiziere soll nach den jüngsten Regelungen der Offiziere so lange dauern, bis dass eine neue Verfassung für Ägypten formuliert und vom Volk angenommen sein wird. Nachher soll es zu neuen Parlamentswahlen kommen. Scaf redet heute von einer kurzen Zeitspanne, schon in drei Monaten soll die Verfassung geschrieben sein. Doch dies ist unrealistisch. Es wird ohne Zweifel länger dauern. Ein Jahr? anderthalb? - falls der Prozess überhaupt, wie er heute geplant ist, über die Bühne geht. Die Offiziere sind in der Lage, ihre Pläne und ihre Versprechen jederzeit abzuändern. Sie haben dies bisher schon mehrmals getan.
Koexistenz als Hoffnung
Man kann sich ein optimistisches Szenario zurechtlegen, nach dem es dem Präsidenten gelänge, über die ganze nun beginnende zweite Phase der Übergangszeit hinweg, die zu einer erhofften echten Demokratie führen soll, einigermassen gute Beziehungen zu den Offizieren aufrecht zu erhalten. Das hiesse Koexistenz-Bedingungen auszuhandeln und einzuhalten, die beiden Seiten erlauben würden, nebeneinander zu leben und gemeinsam für das Wohl ihres Landes zu wirken. Für das Land wäre es so am besten.
Doch die Schwierigkeiten einer solchen Koexistenz werden gross sein. Die wirtschaftlichen und sozialen Realitäten sprechen dagegen, dass sie gelingen könnte.
Die begreifliche Ungeduld der ägyptischen Massen
Ein zentrales Motiv der Volkserhebung in Ägypten und in den anderen arabischen Ländern war die elende Lage des grössten Teils der Bevölkerungen und besonders der arbeitslosen Jugend. Als die Aufstände erfolgreich schienen, wuchs die Erwartung der Bevölkerung auf sofortige Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Doch die Wirren der Übergangszeit haben bewirkt, dass die Wirtschaftslage sich um ein weiteres gutes Stück verschlechterte. Sehr viele Ägypter, wahrscheinlich die immense Mehrheit der gesamten 80 Millionen, erwarten nun dringend von ihrem neuen Präsidenten, dass er rasch und entschieden eine Verbesserung ihrer Lage herbeiführe.
Brot-Unruhen am Horizont
Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Brot-Unruhen kommen wird, ist gross, weil die Lebensmittelpreise ansteigen und die meisten Ägypter ohnehin am Rande der Armut leben. Die Arbeiter, die zu Hungerlöhnen arbeiten, suchen sich zu organisieren, um Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Zu diesen gehören auch die hohen Militärs. Die Arbeitslosen können nur auf die Strasse gehen und gegen das Regime als Ganzes protestieren. Wenn dies geschieht, wird Mursi vor dem Dilemma stehen, entweder seine Rivalen, die Militärs dazu aufzufordern, Ruhe zu schaffen und dadurch seine eigene Position weiter zu schwächen, oder sich auf die Seite der protestierenden Massen zu stellen und dafür von den Militärs bestraft zu werden.
Zum Scheitern verurteilt?
Die Wirtschaft und die Verwaltung seines Landes radikal umzubauen, wäre der Ansatz zu einer Lösung. Doch Mursi kann das aus zwei Gründen nicht tun. Zum ersten weil es auf kurze Frist an sich schwierig, ja so gut wie unmöglich ist; zum zweiten aber auch, weil der Präsident unter militärischer Oberaufsicht gar nicht die nötige Macht besitzen wird, um energische und entscheidende Schritte zu unternehmen. Die Offiziere werden ihm solche Macht vorenthalten, schon weil sie für ihre eigene Macht fürchten müssten, wenn der Präsident erfolgreich regierte.
Erdogan als Warnung für Scaf
Das Beispiel der Türkei wird für sie eine Warnung sein. Dort wurde der Islamist und Demokrat, Erdogan, nach einem harten Ringen mit seiner Armeeführung, durch wiederholte Wahlsiege Herr über seine Offiziere. Diese Siege erlangte er zu einem guten Teil, weil er die Wirtschaft entscheidend voranbrachte und die Türken dies honorierten.
Die ägyptische Armeeführung wird sich sagen: Wenn Mursi wenig erfolgreich ist, wird er in den nächsten Wahlen - vielleicht in einem oder anderthalb Jahren - abgewählt werden. Er selbst und die Muslimbrüder würden diskreditiert sein. Dies ist unsere beste Chance, unsere bisherige Machtstellung im ägyptischen Staat und unsere riesigen wirtschaftlichen Privilegien weiterhin abzusichern.
Eine zweite Revolution?
Falls aber Mursi sich gegen dieses Geschick auflehnen sollte, hat er bloss eine Waffe gegen Scaf: Er kann die grosse Masse der Muslimbrüder erneut auf die Strassen rufen und hoffen, viele andere Unzufriedene würden sich anschliessen. Dies gäbe dann eine "zweite Revolution", diesmal gegen Scaf gerichtet. Dies fordern ägyptische Revolutionsgruppen schon seit Monaten.
Wie diese zweite Auflehnungswelle ablaufen würde, kann man nicht voraussagen. Nur eines ist klar, die Entscheidung wird dann höchstwahrscheinlich davon abhängen, ob die Armee gegenüber dieser zweiten Revolution, wie im Falle der ersten, ihren Zusammenhalt wird bewahren können, oder ob ihre unteren Ränge beginnen werden, sich der aufgebrachten Bevölkerung zuzuwenden.