Die nicht zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Vorteil unterwegs sind, das waren einst die Pilger. Die Gründe ihres Reisens waren immaterieller Art. Es zog sie an heilige Orte, und der Weg dorthin war genauso ein religiöser Akt wie die am Ziel erstrebte Einstimmung in den Spiritus loci. Eine Pilgerreise konnte so zur Sinngebung des Lebens dienen, da sie als handfestes Erlebnis mit der im Alltag nicht greifbaren Welt des Glaubens wahrgenommen wurde.
Das Pilgern kommt in mehreren Weltreligionen vor und ist zum Teil ungebrochen aktuell geblieben. Im christlich geprägten Europa ist es am Verschwinden. Zwar wird es in religiös konservativen Milieus hochgehalten und in alternativ-modernen Szenen wiederentdeckt. Doch das vorletzte Jahrhundert mit seiner «Verwandlung der Welt» – so betitelt der Historiker Jürgen Osterhammel seine grosse Geschichte des 19. Jahrhunderts – hat auch diese seit der Spätantike geübte Praxis transformiert.
Ohne Plan und Absicht, sondern einfach durch den verwandelnden Zeitgeist wurde das Pilgern abgelöst durch den Tourismus. Nicht mehr heilige Stätten waren die Anziehungspunkte, sondern Kulturschätze, ikonische Landschaften, bedeutende Städte, Wirkungsorte von Berühmtheiten, Schauplätze grosser Ereignisse. Das Heilige wich dem Bedeutenden. Die Wirkung war im Grunde ähnlich. Erst von Oberschichten angebahnt und als Statuszeichen vorgelebt, erfasste das Reisen auch den sich allmählich etablierenden Mittelstand.
Vermutlich wurde mit dem vor etwa zwei Generationen vollzogenen Schritt zum Massentourismus nochmals ein neues Kapitel aufgeschlagen: Es geht nicht mehr um das Aufsuchen bedeutender Stätten, sondern zunehmend um den Ortswechsel um seiner selbst willen. Das Reisen ist zum Ritual mutiert. So unterschiedlich die individuellen Gründe der Bewegung im Raum sein mögen, dürften sie insgesamt doch mit dem Wunsch zusammenhängen, Grenzen zu überschreiten und sich zu vergewissern, dass es noch etwas gibt ausserhalb der Alltagswelt. Falls das stimmt, bewegt sich der Massentourismus trotz unserer vermeintlich so immensen geistigen Distanz zum Mittelalter eben doch auf ganz ähnlichen Bahnen wie die einstige Pilgerschaft.