«Wir Banker sind bereit, unseren Beitrag zu leisten,» und «wir stehen zu unserer Verantwortung», konnte in verschiedenen Medien im Februar 2015 gelesen werden. «Bundesrat und Parlament müssen schnell handeln!» Die Botschaft Ermottis tönt etwas schrill, sieben Jahre nach der Hals-über-Kopf-Rettung seiner Bank durch eben diesen Bundesrat, finanziert durch die Steuerzahler.
Grosser Handlungsbedarf
Zweifellos durchleben wir unruhige Zeiten. Masseneinwanderungsinitiative vom Februar 2014 und Nationalbankentscheid vom Januar 2015 haben das Land in den Grundfesten erschüttert. «Courant normal» gilt nicht mehr. Dies haben Bundesrat, Parlament und Volk wohl realisiert. Wenn nun aber Spitzenmanager an die Politik appellieren, besteht der Verdacht, sie dächten primär an die Zukunft ihres eigenes Geschäftsmodells und dessen Ausschüttungen an sie selbst oder sie verstünden nicht so ganz, wie die helvetische Politik funktioniert.
Dass sich in den letzten Jahren ein Graben geöffnet hat zwischen Politik und Wirtschaft, ist offensichtlich. Der fehlende Einfluss erfolgreicher Wirtschaftsvertreter mit Bodenhaftung im politischen Alltag ist beklagenswert. Er wird von diesen begründet durch fehlende Zeit, Arbeitsüberlastung oder ganz banal: Es gibt für uns Wichtigeres zu tun! Die Langzeitfolgen dieser Einstellung werden nun sichtbar. Nicht nur das Erfolgsmodell Schweiz ist gefährdet, auch dessen Fundament, das Milizsystem.
Anspruchsvolles Milizsystem
Tatsächlich ist die Forderung, die Wirtschaft hätte sich vermehrt in die Politik einzumischen, berechtigt. Tut sie es so wie im Fall Ermotti, ist das allerdings der unglückliche Weg. Vom Hochsitz der Konzernchefs den Ahnungslosen in Bundesbern zuzurufen, wie das wirtschaftspolitische Programm zur Stärkung des Arbeitsplatzes auszusehen hätte und wie es rasch umgesetzt werden müsse, ist missverstandene Kommunikation. Und falsch verstandenes politisches Engagement.
Dieses beginnt viel früher und andersherum. Wir brauchen weniger eloquente Berater, dafür Wirtschaftssachverständige aus KMU und Konzernen, die sich wieder im banalen Alltagsgeschäft der (niedrigen) Politik engagieren. Und natürlich, woran es vor allem mangelt, sind Mitglieder der Gesellschaft, die bereit sind, sich neben ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld für wenig Geld im öffentlichen Bereich zu betätigen.
Damit unser Milizsystem nicht graduell zum Mythos verkommt (besungen im Kontext mit Neutralität, Föderalismus, Freiheit und Sicherheit), gilt es, auf dem Boden der Realität zu stehen.
Auf Gemeindeebene fehlt immer öfter qualifizierter Nachwuchs in den Exekutiven. Auch weil die politischen Parteien dem verstaubten Grundsatz nachleben, der politisch interessierte Mensch sei in «Linke», «Rechte» oder «Wischiwaschi» zu kategorisieren. Wo doch im 21. Jahrhundert sich eben diese Menschen nicht mehr sagen lassen, was sie gemäss Parteiparolen zu denken hätten. Individualisierung, Freizeit- und Feriengestaltung, alles erfordert zudem seine Zeit.
In den kantonalen Parlamenten sieht es nicht viel besser aus. Je mehr es das Fernbleiben von geeigneten, konsensorientierten, sachverständigen Kandidaten bemängelt, desto abschätziger urteilt dasselbe Publikum über die «Schwatzbuden».
«Im Milizparlament in Bern sind paradoxerweise die Berufspolitiker überrepräsentiert», schreibt Adrian Vatter («Das politische System der Schweiz»). Und: «Stark vertreten sind auch diejenigen Parlamentsmitglieder, die im Hauptberuf beratend tätig sind, dazu zählen Unternehmens-, Kommunikations- und Politikberater, also wiederum solche, die sich hauptberuflich mit Politik auseinandersetzen.»
Reanimierungsversuche
Unser Milizsystem läuft Gefahr, einen langsamen Tod zu sterben. Die Denkfabrik Avenir Suisse hat deshalb eine Wiederbelebungs-Initiative ergriffen. Die zentralen Pfeiler des einzigartigen Schweizer Staatsmodells sollen saniert werden. Wenn diese Initiative dazu verhilft, in den Köpfen der Schweizerinnen und Schweizer schon mal überhaupt den dringenden Handlungsbedarf aufdämmern zu lassen, ist bereits viel gewonnen.
Avenir Suisse schreibt, die Milizkultur sei ein entscheidender Bestandteil unseres Staatsverständnisses und keine Zuschauerdemokratie. Da wären wohl noch viele einverstanden. Doch die Idee einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer, Frauen und niedergelassene Ausländer, also ein eigentlicher Bürgerdienst – da zucken viele mit der Achsel. Dieser Dienst, zu absolvieren in der Armee, in einem Schutzdienst oder als ziviles Engagement, scheint doch ziemlich radikal. Vergegenwärtigt man sich jedoch den ursprüngliche Sinn und Zwecke des Milizsystems: Genau, die Teilnahme eines jeden Laien am Staatswesen!
Nun lässt sich Verantwortungsgefühl für das Staatswesen nicht von oben nach unten verordnen. Mit liberalem Staatsverständnis hätte dies wenig zu tun. Doch: «Wenn das Milizsystem ausstirbt, ist das viel unliberaler», argumentiert Avenir Suisse. Der Projektleiter Patrick Schellenbauer bringt es auf den Punkt: «Die Schweizer fühlen sich kollektiv dem Milizsystem verpflichtet, nur individuell hapert es. Die Marktökonomie braucht ein Gegengewicht – den Gemeinsinn.»
Und: Warum lassen wir es nicht zu, dass qualifizierte niedergelassene Ausländer (C-Ausweis), die sich gesellschaftlich und beruflich längst «bewiesen» haben, sich in unserem hochgelobten Milizsystem freiwillig engagieren?
Das helvetische Dreieck
Gesellschaft, Wirtschaft, Politik bilden die Seiten des helvetischen Dreiecks. Solange sich die Partizipanten innerhalb dieses Dreiecks einem ungeschriebenen Gesetz – einer überparteilichen Koalition, einem gemeinsamen Gesellschaftsbild, einem auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Vertrag – verpflichtet fühlten, durchlebte die Schweiz ruhigere und erfolgreiche Zeiten. Das System nannte sich «Helvetischer Sonderfall».
Im Lauf der letzten Jahrzehnte machte sich ein neuer, zersetzender Begriff breit: Masslosigkeit. Er erschüttert das gemütliche Schweiz-Verständnis. Das erfolgsverwöhnte Publikum realisiert immer quälender: Zuwanderung, Zubetonierung, Managerlöhne, Polithetze. Die grassierende Masslosigkeit als gemeinsamer Nenner treibt einen Keil in die Bevölkerung. Dem Mann, der Frau von der Strasse wird pausenlos eingepaukt, «die da oben in Bern» sind an allem Schuld. Alljährlich wird in den Medien darüber berichtet, wie raffgierige Manager ihre Millionenbezüge «rechtfertigen». Seit Jahren rufen warnende Stimmen: Jede Sekunde wird in unserem Land ein Quadratmeter Landschaft überbaut. Der Dichtestress im Verkehr nervt.
In der Gesellschaft geht Verständnis für Politik und Wirtschaft verloren. Politikerinnen und Politiker sehen sich missverstanden, da diffamiert oder belächelt. Wirtschaftsvertreter verstehen die politischen Initiativen und Volksentscheide nicht mehr. Den Partizipanten innerhalb des schweizerischen Dreiecks ist das versöhnliche Bindeglied des Sich-gegenseitig-Achtens abhanden gekommen.
Das Volk wünscht sich mehr Verantwortung der Wirtschaft. National- und Ständeräte wünschen sich mehr Führungsverantwortung des Bundesrates. Dieser wünscht sich weniger Parteiideologien, dafür mehr Diskussionssubstanz. Die Wirtschaft ruft nach Deregulierung, die Bauern nach Subventionen. Der Wunschkatalog wird je länger, desto mehr sich die Betroffenen missverstehen.
Perspektiven Schweiz
Die Schweizerische Bundeskanzlei hat 2014 ihren umfassenden Bericht «Perspektiven 2030» veröffentlicht. Mittels Kombination verschiedener Szenariotechniken und Trendanalysen haben 161 hochqualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten (Perspektivenstab, Fokusgruppen, Externe Berater, Think-Tanks, Methodik- und Moderationsberatung) mögliche Entwicklungstendenzen aufgezeichnet. Unterteilt sind diese in vier Szenarien: «Überholspur», «Stockender Verkehr», «Steiniger Weg», «Seidenstrasse», jeweils schwerpunktmässig geprägt durch Hauptbegriffe wie Wachstum, Freihandel, Frieden, Zuwanderung (die beiden ersten) oder Machtpolitik, Handelshemmnisse, Auswanderung (?), Aufstieg Asiens (die beiden andern).
Der Bericht ist lesenswert (news.admin.ch). Er ist geprägt durch äussere Einflüsse auf unser Land und lässt überdeutlich werden, wie abhängig wir sind, nicht nur von der EU. Schwerpunkte bilden bei allen vier Modellen die Chancen und Gefahren für die Bundespolitik, die wirtschaftliche und technologische Entwicklung, der Wohlstand und das Gesundheitswesen, die nationale Sicherheit.
Das fehlende Volk
Schade, fehlt «das Volk» – der Souverän – bei fast allen diesen Betrachtungen. Am Rande wird erwähnt, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt bei krisenhafter Entwicklung wohl steigen würde. Doch das Verhalten der Gesellschaft als Einflusskomponente wird ignoriert.
Wie ist diese Lücke zu erklären? Ist das Volk aus Expertensicht «quantité négligeable»? Ist sein Einfluss auf die Entwicklung der nächsten 15 Jahre unwichtig?
Bräuchten wir neben Beratern, Lobbyisten, Think-Tanks, Dachverbänden und Gewerkschaften, Parteigrössen (alle sind Interessenvertreter), vielleicht auch Fürsprecher, Motivatoren, Parteilose, Vorbilder, Leuchtfiguren aus der Basis? Diese ist verunsichert, ja verängstigt, so hören wir täglich; durch die rasante Entwicklung überfordert. Sie ist, fast scheint es so, führungslos, allein gelassen.
Die politischen Schwarzmaler, die permanent die Schweiz retten, genügen nicht. Sie sind recht eigentlich längst überflüssig. Zum Erfolgsmodell Schweiz gehört dagegen auch Substantielles. Das Milizsystem als Fundament ruft gebieterisch nach Sanierung. Diese kann nicht auf Wahllisten versprochen werden. Sie bedingt das Engagement der Basis. Schweizerinnen und Schweizer, Leserinnen und Leser dieser Gedanken: Werden sie einen neuen Gemeinsinn-Pakt entwickeln?