Stau und überfüllte Züge. Alle kennen wir die Symptome. Die Gründe sind längst bekannt. Einige davon: die undurchsichtige Subventionierung des ÖV, unzeitgemässer föderalistischer Jekami-Strassenbau, unbrauchbare Lenkungskonzepte. Die Folgen: Bahnfahren ist zu billig, neue Strassen entstehen am falschen Ort, ideologisch motivierte Politik oder Staupflege sind kontraproduktiv.
Hausgemachte Probleme
Grenzenlose Mobilität ist eine Art „Grundnahrungsmittel“ unserer Zeit – Hauptbestandteil der täglichen „Ernährung“ also. Mobilität ist notwendig: Während Brot und Milch den Energiebedarf decken, stillt uneingeschränkte Beweglichkeit unseren Hunger nach Erlebnissen, unseren Anspruch nach Omnipräsenz oder ist banale Voraussetzung zur täglichen Pflichterfüllung. Gaben wir 1945 noch 35 Prozent der Haushalteinkommen für Lebensmittel/Getränke aus, sind es mittlerweile weniger als 7 Prozent. Dafür ist der Anteil der Ausgaben für Verkehr im gleichen Zeitraum von 2 auf 8,5 Prozent gestiegen. Während in der Schweiz wohl niemand behaupten würde, der (relative) Rückgang der Food-Ausgaben sei die Folge zu billiger Verkaufspreise, sieht es beim Verkehr ganz anders aus: Dessen Preise sind offensichtlich zu tief.
Was zu billig ist, wird auch zu stark nachgefragt. Bezüglich Verkehr wirkt jedoch der simple Gewohnheitsfaktor problemverstärkend. Morgens zwischen 7 und 9, abends zwischen 5 und 7 führt die helvetische Binnenwanderung zu kostspieligen Engpässen. In der übrigen Zeit – also während zwanzig Stunden täglich – herrscht weitgehend Normalität. Bei den SBB liegt denn auch die durchschnittliche Sitzauslastung zwischen 20 und 32 Prozent.
Das Problem wäre einfach zu lösen, finden Sie? Zweifel sind angebracht. Sollen Preise im ÖV angehoben werden, geht das grosse Wehklagen los. Die SBB sind eh schon viel zu teuer! Steht gar eine Preiserhöhung der Autobahnvignette an, spricht das Volk regelmässig ein Machtwort: Nein, non, no! Bliebe der fromme Wunsch, Staus in Spitzenzeiten (eben, vier Stunden täglich) durch Gewohnheitsänderung zu entschärfen. Keine Chance. Auch die rüstige Seniorenwandergruppe steht um 7 Uhr am Bahnhof. Und natürlich sitzen Damen und Herren auf dem Weg zur Arbeit genau dann allein in ihrem Auto, um „zur Zeit“ im Büro zu anzukommen. Zur Stosszeit, eben.
Fehlerhafte Verkehrspolitik
In einer ausführlichen Studie von Avenir Suisse diagnostiziert Daniel Müller drei Strukturfehler unserer Verkehrspolitik. Es sind dies:
- massive Subventionierung des Verkehrs
- fehlende Preisdifferenzierung
- föderalistisch statt sachlich motivierte Investitionsanreize.
Gleichzeitig beklagt er, dass sowohl die Politik als auch das Volk die Zusammenhänge zwischen Kosten, Verursachern und Bezahlenden konsequent ausblendeten (Avenir Suisse 03/2013).
Kundinnen und Kunden des ÖV realisieren offensichtlich zu wenig, dass sie mit ihrem Ticket oder Abo nur 40 Prozent der effektiven Kosten berappen müssen. Die restlichen 60 Prozent werden aus Steuergeldern finanziert, also auch von jenen, die den ÖV wenig oder gar nicht benützen. Dass Pro Bahn Schweiz, die Interessenvertretung der ÖV-Kunden, gegen die angekündigten Billettpreiserhöhungen (im Durchschnitt 2,9 Prozent) protestiert, ist nachvollziehbar. Dass sie verkündet, die Bahnkunden würden immer mehr zu „Milchkühen“ der Mobilität, ist allerdings, unter den oben geschilderten Vorzeichen, eine unsachliche Botschaft. Im Strassenverkehr liegt der Selbstfinanzierungsgrad bei rund 90 Prozent.
Billettpreise sollten variieren, um die Nachfragespitzen zu glätten. Road Pricing (elektronisches Barzahlsystem auf satellitenbasierter Navigation und kontaktlosem Datenaustausch) im Strassenverkehr hätte die gleiche Zielsetzung.
Die milliardenschweren Infrastrukturinvestitionen (ÖV und Strassenbau) werden häufig nach föderalistischen, regionalpolitischen Erwägungen getätigt. „Das föderale Wunschkonzert führt zu einem Überausbau der Infrastruktur ohne Rücksicht auf langfristige Folgekosten in Betrieb und Unterhalt“ (Schweizer Monat 12/2013).
Denkstau im Kopf
Alle drei dieser Schwachstellen könnten saniert werden. In unserem Land hat das Volk immer Recht. An ihm läge es demnach, darüber zu befinden, ob einzelne oder besser gleich alle drei der diagnostizierten Fehlanreize beseitigt werden sollten. Doch offensichtlich ist der Leidensdruck noch zu klein. Zwar wächst die generelle Unzufriedenheit – doch davon profitieren in erster Linie findige Politiker: Schuld an der Misere sind dann: die Regierung, die Zuwanderer, kurz, die andern. So einfach ist das.
Ein gewisser Denkstau lässt sich nicht abstreiten. Wo sich der Verkehr staut, sollen die Kapazitäten ausgebaut werden, möglichst rasch. Als Folge davon wird die Mobilität weiter gefördert, und deshalb wird sie zunehmen. Bis sich der Verkehrskollaps anderswo ankündigt. Eine Endlosschlaufe. Gäbe es Alternativen zu diesem etwas simplen Szenario?
Schöne, heile Pendlerwelt
Die Zersiedelung der Schweiz ist auch eine Folge zu billiger und zu attraktiver Mobilität. Neue S-Bahnen und verdichtete Fahrpläne in grüne Agglomerationen folgen regelmässig den neu erschlossenen Bauzonen bis weit ins vormals beschauliche Naherholungsgebiet hinaus. Billigere Baukosten werden dort – dank Autobahn- oder Bahnanschluss – zur verlockenden Alternativen. Pendeln wird zum Normalfall.
Die kantonalen Steuerparadiese locken ganze Bankergenerationen und Finanzakrobaten hinaus aus der City. Gesparte Steuern sind für sie der Hauptfokus ihres Lebensmittelpunktes. Wer die alltägliche Nobelkarossen-Karawane mit den Nummernschildern SZ und ZG am linken Zürichsee-Ufer Richtung Zürich-City im Morgenstau beobachten möchte, nichts ist einfacher! Er muss allerdings Lärm und Abgase in Kauf nehmen. Die betroffenen Pendler, immer allein unterwegs, stört das wenig. Sie haben ja ihre Klimaanlage und Luftfilter.
Die Mobilität verbraucht in der Schweiz bereits 40 Prozent aller Energie. Die Bevölkerung unseres Landes ist innert fünfzig Jahren um 60 Prozent von rund fünf auf über acht Millionen gestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich der Strassenverkehr um mehr als 500 Prozent erhöht. Ein grotesker Pendlerverkehr ist mitschuldig. Offensichtlich stecken wir auf dem Weg in die Zukunft der Mobilität im Stau, meint David Bosshard vom GDI. Gäbe es Denk-Alternativen?
Denkbare Lösungsansätze
Die einleuchtende Logik „wer (mehr) konsumiert, soll (mehr) bezahlen“ plädiert für Kostenwahrheit mittels Mobility Pricing. Bereits realisiert ist sie in der Schweiz zum Beispiel mit der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA). Eine solche Beeinflussung des Verkehrsflusses auf den Strassen zu den City-Zentren für alle Fahrzeuge praktizieren London oder Singapur seit Jahren mit positiven Auswirkungen für Verkehrsteilnehmer und Anwohner. Oslo und Stockholm erheben dafür eine Citymaut. Österreich kennt die Tunnelmaut. Doch auch elektronische ÖV-Tickets sind heute technologisch praktizierbar.
Um die ungenügende Kapazitätsauslastung zu verbessern und gleichzeitig das unsympathische Stosszeitgedränge zu mildern, liesse sich für den Bahnreisenden die Idee des Flugverkehrs adaptieren. Dort gehören unterschiedliche Flugpreise für ein und dieselbe Strecke längst zur akzeptierten Selbstverständlichkeit. Zumindest müsste die Politik für notorische Problemstrecken diese Idee zulassen. In den Niederlanden wird ein ÖV-Chipkartensystem Schritt um Schritt entwickelt, Bahnhöfe werden dazu mit Eingangs- und Ausgangsportalen ausgerüstet. Ticketkarten sind im voraus aufzuladen. Benützte Leistungen werden zeit- und streckenabhängig elektronisch abgebucht.
Und natürlich steht in der Schweiz die rote „Mobility“-Autoflotte an vielen Bahnhöfen für die moderne Idee des Carsharings. Der bedachte Umgang mit dem Auto wird gefördert, dadurch lassen sich Emissionen senken. Der spontane Entscheid, ob ÖV oder Auto, wird fallweise getroffen, ein eigenes Auto zu besitzen wird unnötig, dessen Kosten weitgehend eingespart. Private Carsharing erlebt in den USA einen eigentlichen Boom. Private Anbieter und Suchende treffen sich auf Apps. Ob kleine Nachbarskreise oder grössere, anonyme Spontanorganisationen – die Idee, auf sein eigenes Auto zu verzichten, ist zukunftsträchtig und trendig.
Auf sehr einfache Art und Weise liesse sich der Privatverkehr natürlich über eine Erhöhung der Treibstoffpreise eindämmen. Nur schon kostendeckende oder zumindest gleiche Preise wie jene unserer Nachbarländer hätten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Doch da begibt sich Doris Leuthard natürlich auf dünnes Eis. Das grosse Aufheulen der Autolobby – „Raubzug auf die Autofahrer“ – kennen wir. Nicht einmal die längst überfällige Anpassung der Vignette an die Teuerung wird bekanntlich akzeptiert.
Arbeitgeber und Politik sind gefordert
Mit flexiblen Arbeitszeiten und räumlichem Aufbrechen starrer Arbeitsorte liessen sich von heute auf morgen Staus und Pendlerkarawanen spürbar reduzieren. Warum sitzen noch immer Tausende von hellen Köpfen gleichzeitig und gleichenorts hinter ihren Bildschirmen? Solche zementierten Arbeitsbedingungen kennzeichneten vor 150 Jahren das Industriezeitalter, wohl oder übel. Man sagt, heute lebten wir im Informationszeitalter?
Es liegt auch an der Politik, wirksame Anreize zu schaffen. Versuche in diese Richtung scheiterten in der Vergangenheit – an den Realitäten im Bundeshaus. Nicht der Bundesrat ist verantwortlich zu machen. Für die Gesetzgebung sind National- und Ständerat zuständig. Deren Mitglieder werden von den politischen Parteien vorgeschlagen und vom Volk gewählt.
Somit hat die grösste, wählerstärkste Partei bei diesem Spiel der Unschuldigen den spürbarsten Einfluss. Was tut sie? Die SVP lanciert eine Anti-Stau-Initiative. Die Kantonsstrassen sind auszubauen, bis die Nachfrage der Automobilisten gedeckt wäre. Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Und so wartet eine zeitgemässe helvetische Verkehrspolitik weiter auf ihre Geburtsstunde.