Das städtische Büro für zivile Angelegenheiten schätzt, dass die Zahl der Menschen über 60 jedes Jahr um 200.000 steigt. In weniger als 20 Jahren wird Schanghai demografisch die „älteste“ Stadt Chinas sein – trotz der enormen Zuwanderung aus den ländlichen Gegenden. Die zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums verordnete staatliche Politik der Ein-Kind-Familie ist der Hauptgrund dieser Entwicklung. Die Klugheit dieser 1979 nach dem Tod Mao Zedongs eingeführten obligatorischen Geburtenkontrolle – die nicht für Bauern und ethnische Minderheiten gilt – wird jetzt offen angezweifelt.
Mehr als die Ein-Kind-Politik zerstört aber der Unabhängigkeitsdrang der Jugend die traditionelle chinesische Familie. Früher lebten in China mehrere Generationen unter einem Dach zusammen. Die erste zu einem bescheidenen Wohlstand gelangte Generation baute das „Nest“, in dem auch die Kinder, Enkel und Urenkel wohnen sollten. Als Gegenleistung genossen die Älteren grossen Respekt. Ihre erwachsenen Kinder waren verpflichtet, ihren Lebensunterhalt zu gewährleisten.
Diese Bräuche gehen rasch verloren. Den jüngsten Statistiken zufolge leben schon jetzt fast 40 Prozent der über 60-jährigen Einwohner Schanghais nicht mehr mit ihren Sprösslingen zusammen. Diese „Senioren mit den leeren Nestern“ – auf Chinesisch „kong chao lao ren“ genannt - bilden eine neue Bevölkerungsgruppe. Vergangenes Jahr wurden in Schanghai 940.000 Senioren mit leeren Nestern gezählt. Laut der Zeitung „Shanghai Daily“ sind viele von ihnen „besorgt, ängstlich, einsam und depressiv“ geworden. „Manche pessimistische alte Menschen fühlen sich vom Leben betrogen und schotten sich von der Gesellschaft ab“, stellt der Psychologe Wang Chen vom Beratungszentrum des Stadtbezirks Xuhui fest.
Die meisten Pensionäre müssen von einer äusserst bescheidenen Rente leben, die im Schnitt um die 2000 Yuan (294 Franken) monatlich liegt. Ein Ehepaar im Ruhestand kann mit zwei Renten knapp auskommen. Wenn aber einer der Partner stirbt, stürzt der andere ins Elend ab. Im Falle einer Erkrankung zahlt die Krankenversicherung nur einen Teil der Ausgaben für Medikamente zurück. Die Inflation treibt die Preise in die Höhe. Allein im August stieg der Lebenskostenindex in Schanghai um 6,2 Prozent.
Das städtische Amt für soziale Wohlfahrt steht vor der Aufgabe, 3,3 Millionen alte Menschen durch Zuschüsse in Form von Geld oder Lebensmitteln am Leben zu halten. Im modernen Stadtteil Pudong, dort wo die eindrucksvollsten Wolkenkratzer stehen, versorgt ein Hausbetreuungsdienst alleinstehende Senioren mit Essen, frischer Wäsche und hilft ihnen bei der Körperpflege. Die Helfer beschweren sich aber oft darüber, dass die isolierten Alten allen Menschen misstrauen und rasch ausfällig werden.
Viele alleinstehende ältere Menschen treffen sich in Parks zum Plaudern, Tanzen oder um Kampfsportarten zu üben. Zu einem besonders beliebten Treffpunkt ist der Eingang zum Selbstbau-Einrichtungshaus IKEA geworden. Jeden Dienstag und Donnerstag finden sich dort um die 400 ältere Menschen ein und machen eine Menge Lärm. Kunden der schwedischen Kette beschwerten sich über diese Belästigung. Aber die Direktion der IKEA-Filiale hatte mehr Einsehen mit den Rentnern. Sie liefert ihnen jetzt sogar Gratiskaffee als „Ausdruck unserer Firmenkultur“. „Wir können sie nicht daran hindern, auf öffentlichem Grund herumzusitzen“, meint ein Angestellter von IKEA.
Das Problem der Alterseinsamkeit und der „leeren Nester“, das für die Chinesen neu ist, hängt mit der zunehmende Mobilität der Jugend zusammen. Die Masse der Wanderarbeiter, die in den Städten einen Job am Bau oder in einer Fabrik suchen, ist unübersehbar. Weniger sichtbar sind die Millionen gut ausgebildeter junger Menschen, die dorthin ziehen, wo ihnen die höchsten Einkommen und die glitzernde Welt der Konsumtempel winken. Nach so langen Entbehrungen glauben sie im Unterschied zu den Europäern an eine bessere Zukunft. Ihre Eltern besuchen sie einmal im Jahr an Feiertagen mit einigen Geschenken in der Tüte. Ihr Geld teilen sie mit niemandem. In dieser Hinsicht nähert sich die neue Generation in China rasch den westlichen Gepflogenheiten an.